STREIT 1/2022

S. 35-37

BGH, §§ 1303, 1313 ff. BGB

Keine Aufhebung einer Auslandsehe mit minderjähriger Ehefrau

Trotz Verstoßes gegen das Ehemündigkeitsalter und damit trotz Vorliegens eines Aufhebungsgrundes im Sinne des § 1314 Abs. 1 Nr. 1 BGB führt die im Rahmen dieser Norm dem Gericht eingeräumte Ermessensausübung dazu, dass die Ehe nicht aufzuheben ist. Nach langjähriger, im Erwachsenenalter bewusst gelebter Familienwirklichkeit und der Geburt von vier gemeinsamen ehelichen Kindern ist von der Eheaufhebung durch das Gericht abzusehen.
(Leitsatz der Redaktion)

Beschluss des BGH vom 22.07.2020 – XII ZB 131/20

Aus dem Sachverhalt:
Der Antragsteller begehrt als zuständige Verwaltungsbehörde die Aufhebung der am 10. September 2001 in Haret Hreik, Libanon, geschlossenen Ehe der Antragsgegner.
Zum Zeitpunkt der Eheschließung waren die Antragsgegner libanesische Staatsangehörige moslemischen Glaubens. Der Antragsgegner war 21 Jahre alt, die am 17. November 1984 geborene Antragsgegnerin war 16 Jahre alt. Sie lebte damals bereits in Deutschland und erwarb im Jahre 2002 die deutsche Staatsangehörigkeit. Im August 2002 folgte der Antragsgegner seiner Ehefrau nach Deutschland, wo die Ehegatten von April 2003 bis Juni 2016 zusammenlebten und vier Kinder (geboren 2005, 2008, 2009 und 2013) bekamen. Seit der Trennung der Ehegatten leben die vier Kinder im Haushalt der Mutter, die einen neuen Lebensgefährten hat. Die Eheleute sind inzwischen nach islamischem Recht geschieden.
Nachdem die Antragsgegnerin anlässlich einer standesamtlichen Beurkundung am 1. Oktober 2018 auf Nachfrage der Standesbeamtin mitgeteilt hatte, die Ehe nicht fortsetzen zu wollen, hat der Antragsteller beim Amtsgericht beantragt, die Ehe aufzuheben, weil die Antragsgegnerin bei Eheschließung minderjährig gewesen sei. Das Amtsgericht hat den Antrag zurückgewiesen, weil die Aufhebbarkeit der vor dem 22. Juli 2017 geschlossenen Ehe sich nach dem bis dahin geltenden Recht richte und ein bis zu diesem Zeitpunkt geregelter Eheaufhebungsgrund nicht vorliege. Auch bei Anwendbarkeit des aktuellen Rechts scheide eine Eheaufhebung aus, weil die Antragsgegnerin durch das Zusammenziehen mit ihrem Mann und die Begründung einer mehrköpfigen Familie zu erkennen gegeben habe, dass sie die Ehe fortsetzen wolle. Die Beschwerde des Antragstellers ist ohne Erfolg geblieben. Das Kammergericht hat sie mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass der Antrag „als unzulässig zurückgewiesen“ wird.
Hiergegen richtet sich die zugelassene Rechtsbeschwerde des Antragstellers, der seinen Eheaufhebungsantrag weiterverfolgt.

Aus den Gründen:
Die Rechtsbeschwerde bleibt letztlich ohne Erfolg. Der auf Eheaufhebung gerichtete Antrag ist zwar nicht unzulässig, aber unbegründet. […]
2. Ohne Rechtsfehler hat das Beschwerdegericht die Ehe der Antragsgegner als wirksam behandelt.
Die Vorfrage, ob die im Zeitpunkt der Eheschließung minderjährige Antragsgegnerin eine wirksame Ehe eingegangen ist, ist selbständig anzuknüpfen. Sie richtet sich gemäß Art. 11, 13 Abs. 1 EGBGB nach libanesischem Recht, weil beide Ehegatten bei Eheschließung im Libanon die libanesische Staatsangehörigkeit hatten und das libanesische Recht nach den in der Rechtsbeschwerdeinstanz nicht angegriffenen tatrichterlichen Feststellungen keine Rückverweisung ausspricht (vgl. Senatsbeschluss vom 14. November 2018 -XII ZB 292/16, FamRZ 2019, 181 Rn. 36 m. w. N.). […]
3. Im Grundsatz ebenfalls zutreffend hat das Beschwerdegericht angenommen, dass sich die Aufhebbarkeit der Ehe der Antragsgegner nach den §§ 1313 ff. BGB in der aktuell geltenden Fassung richtet. Es hat jedoch zu Unrecht eine entsprechende Anwendung von Art. 229 § 44 Abs. 2 EGBGB bejaht.
a) Mit dem am 22. Juli 2017 in Kraft getretenen Gesetz zur Bekämpfung von Kinderehen vom 17. Juli 2017 (BGBl. I S. 2429) hat der Gesetzgeber das Ehemündigkeitsalter ausnahmslos auf 18 Jahre festgelegt, indem er in § 1303 Satz 1 BGB bestimmt hat, dass eine Ehe nicht vor Eintritt der Volljährigkeit eingegangen werden darf. Die zuvor bestehende Möglichkeit des § 1303 Abs. 2 BGB aF, wonach das Familiengericht auf Antrag eine Befreiung vom Erfordernis der Volljährigkeit erteilen konnte, wenn der Antragsteller das 16. Lebensjahr vollendet hatte und sein künftiger Ehegatte volljährig war, ist gestrichen worden. Wie – insoweit inhaltlich identisch – schon in § 1314 Abs. 1 BGB aF geregelt war, kann gemäß § 1314 Abs. 1 Nr. 1 BGB eine Ehe aufgehoben werden, wenn sie entgegen § 1303 Satz 1 BGB mit einem Minderjährigen geschlossen worden ist, der im Zeitpunkt der Eheschließung das 16. Lebensjahr vollendet hatte. Von jüngeren Personen geschlossene Ehen werden vom Gesetz dagegen nun nicht mehr als aufhebbar, sondern gemäß § 1303 Satz 2 BGB als unwirksam eingestuft (vgl. hierzu Senatsbeschluss vom 14. November 2018 – XII ZB 292/16, FamRZ 2019, 181).
Unterliegt die Ehemündigkeit eines Verlobten gemäß Art. 13 Abs. 1 EGBGB ausländischem Recht, so bestimmt der neue Art. 13 Abs. 3 EGBGB, dass die Ehe nach dem – dann in jedem Fall anwendbaren (vgl. auch BT-Drucksache 18/12086 S. 16; BR-Drucksache 275/17 S. 16) – deutschen Recht unwirksam ist, wenn der Verlobte im Zeitpunkt der Eheschließung das 16. Lebensjahr nicht vollendet hatte (Nr. 1), und aufhebbar, wenn er in diesem Zeitpunkt zwar das 16., aber nicht das 18. Lebensjahr vollendet hatte (Nr. 2).
Bei einem Verstoß gegen § 1303 Satz 1 BGB ist die Aufhebung der Ehe gemäß § 1315 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 lit. a BGB – wie nach § 1305 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Alt. 2 BGB aF – zum einen ausgeschlossen, wenn der minderjährige Ehegatte, nachdem er volljährig geworden ist, zu erkennen gegeben hat, dass er die Ehe fortsetzen will (Bestätigung), und gemäß § 1315 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 lit. b BGB nunmehr zum anderen, wenn auf Grund außergewöhnlicher Umstände die Aufhebung der Ehe eine so schwere Härte für den minderjährigen Ehegatten darstellen würde, dass die Aufrechterhaltung der Ehe ausnahmsweise geboten erscheint. […]
b) Mangels insoweit einschlägiger Übergangsregelung ist diese neue Rechtslage nach dem Willen des Gesetzgebers (vgl. BT-Drucksache 18/12086 S. 23; BR-Drucksache 275/15 S. 26) uneingeschränkt auch auf vor dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Bekämpfung von Kinderehen mit einem Verlobten, der das 16., aber nicht das 18. Lebensjahr vollendet hatte, geschlossene Auslandsehen anzuwenden (so auch Coester-Waltjen IPrax 2019, 127, 129; a. A. Andrae Internationales Familienrecht 4. Aufl. § 1 Rn. 134; Münch-KommBGB/Wellenhofer 7. Aufl. Art. 229 § 44 EGBGB Rn. 8; vgl. auch Hüßtege FamRZ 2017, 1374 f.).
aa) Die Überleitungsvorschrift des Art. 229 § 44 Abs. 1 EGBGB, nach der § 1303 Satz 2 BGB in der ab dem 22. Juli 2017 geltenden Fassung für Ehen, die vor diesem Datum geschlossen worden sind, nicht anzuwenden ist und die Aufhebbarkeit dieser Ehen sich nach dem bis dahin geltenden Recht richtet, erfasst entgegen der noch vom Amtsgericht vertretenen Meinung solche Auslandsehen nicht. […]
bb) Ebenfalls nicht einschlägig ist die Überleitungsvorschrift des Art. 229 § 44 Abs. 2 EGBGB, nach der die Aufhebung einer Ehe wegen eines Verstoßes gegen § 1303 BGB ausgeschlossen ist, wenn sie nach Befreiung vom Erfordernis der Volljährigkeit nach § 1303 Abs. 2 bis 4 BGB aF und vor dem 22. Juli 2017 geschlossen worden ist. […]
4. Die Ehe der Antragsgegner ist daher grundsätzlich gemäß Art. 13 Abs. 3 Nr. 2 EGBGB, § 1314 Abs. 1 Nr. 1 BGB aufhebbar, weil die Antragsgegnerin bei Eheschließung zwar das 16., nicht aber das 18. Lebensjahr vollendet hatte. […]
5. Trotz Verstoßes gegen das Ehemündigkeitsalter und damit Vorliegen eines Aufhebungsgrundes im Sinne des § 1314 Abs. 1 Nr. 1 BGB führt die im Rahmen dieser Norm dem Gericht eingeräumte Ermessensausübung hier aber dazu, dass die Ehe der Antragsgegner nicht aufzuheben ist.
a) Allerdings ist streitig, ob § 1314 Abs. 1 Nr. 1 BGB, gemäß dem eine Ehe bei Vorliegen eines Verstoßes gegen § 1303 Satz 1 BGB aufgehoben werden „kann“, dem Gericht ein Entscheidungsermessen einräumt.
aa) Die deutlich überwiegende Auffassung lehnt das – zumeist ohne Begründung (BeckOGK/M. Otto [Stand: 15. Mai 2020] BGB § 1315 Rn. 12; Coester-Waltjen IPrax 2017, 429, 434; Erbarth FamRB 2018, 296, 297; Löhnig FamRZ 2018, 749, 750; Onwuagbaizu NZFam 2019, 465, 467; Rauscher NJW 2018, 3421, 3422; kritisch Andrae Internationales Familienrecht 4. Aufl. § 1 Rn. 137 f.) – ab. Soweit die Vertreter dieser Auffassung dies begründen, verweisen sie darauf, dass die Vorschrift des § 1314 BGB sich als Auflistung der Konstellationen einer aufhebbaren Ehe darstelle, mit der die gebundene – allein unter dem Vorbehalt eines gesetzlichen Ausschlusses nach § 1315 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BGB stehende – Entscheidung in den Machtbereich des Gerichts gestellt werde (vgl. Makowsky RabelsZ 83, 577, 602; BeckOK BGB/Hahn [Stand: 1. Mai 2020] § 1314 Rn. 1). Der Ausschluss des Ermessens ergebe sich aus dem Zusammenspiel von § 1314 BGB und § 1315 BGB (Coester-Waltjen IPrax 2019, 127, 129) und dem in der Gesetzesbegründung niedergelegten Willen des Gesetzgebers (Antomo ZRP 2017, 79, 80). Das Oberlandesgericht Frankfurt verneint jedenfalls ein „generelles Ermessen“ (FamRZ 2019, 1853, 1854).
bb) Demgegenüber verweist die Gegenansicht insbesondere auf den Gesetzeswortlaut sowie teilweise auch auf verfassungsrechtliche Bedenken gegen einen Aufhebungszwang (vgl. AG Frankenthal FamRZ 2018, 749; BeckOGK/M. Otto [Stand: 15. Mai 2020] BGB § 1314 Rn. 2; Gausing/Wittebol DÖV 2018, 41, 47; MünchKommBGB/Wellenhofer 8. Aufl. § 1314 Rn. 6; Weller/Thomale/Hategan/Werner FamRZ 2018, 1289, 1297 f.).
b) Zutreffend ist die letztgenannte Ansicht. […]
Mit dem Gesetzeswortlaut ist daher ein Normverständnis ohne weiteres vereinbar, wonach die Eheaufhebung wegen Verstoßes gegen die Ehemündigkeit (§ 1303 Satz 1 BGB) nach § 1314 Abs. 1 Nr. 1 BGB bei Vorliegen eines Ausschlussgrundes im Sinne von § 1315 Abs. 1 Satz 1 BGB von Gesetzes wegen untersagt ist und dem Gericht im Übrigen ein Ermessen zusteht.
cc) Ebenso wenig lässt sich aus dem Verhältnis dieser beiden Vorschriften zwingend der Schluss gegen ein gerichtliches Ermessen ziehen, da die Zuerkennung eines solchen in den Fällen, in denen die Eheaufhebung nicht schon von Gesetzes wegen ausgeschlossen ist, eine mögliche und sinnhafte Regelung bedeutet. Etwas anderes folgt auch nicht daraus, dass der gleichfalls mit „kann“ eingeleitete § 1314 Abs. 1 Nr. 2 BGB Eheaufhebungsgründe auflistet, die einem solchen Ermessen in aller Regel nicht zugänglich sein werden. Zudem hat der Bundesgerichtshof selbst für das Verbot der Doppelehe bzw. -partnerschaft des § 1306 BGB – für das es auch nach früherem Recht keine Härtefallregelung gab – anerkannt, dass ein hierauf gestützter Aufhebungsantrag ausnahmsweise rechtsmissbräuchlich sein kann (vgl. etwa BGH FamRZ 1964, 418, 419 f.) und mithin eine Einzelfallbetrachtung nicht gänzlich ausgeschlossen ist.
dd) Den Ausschlag dafür, dem Familiengericht jedenfalls im Rahmen des § 1314 Abs. 1 Nr. 1 BGB ein Ermessen zuzuerkennen, gibt jedoch das Erfordernis einer verfassungskonformen Auslegung des Gesetzes. […]
(3) Daher ist die vom Gesetzeswortlaut gedeckte Auslegung geboten, wonach dem Gericht von § 1314 Abs. 1 Nr. 1 BGB ein Ermessen eingeräumt ist. Dies widerspricht auch nicht dem den Materialien zu entnehmenden Willen des Gesetzgebers, sondern wird im Gegenteil sogar in besonderer Weise der erklärten gesetzgeberischen Zielsetzung des Minderjährigenschutzes (vgl. BT-Drucksache 18/12086 S. 1, 15; BR-Drucksache 275/17 S.1, 14) gerecht.
Der weiter vom Gesetzgeber verfolgten Absicht, für Rechtsklarheit zu sorgen (vgl. BT-Drucksache 18/12086 S. 1; BR-Drucksache 275/17 S. 1) und das in Deutschland geltende Ehemündigkeitsalter des § 1303 BGB auch mit Bezug auf Auslandsehen durchzusetzen, haben die Gerichte mit einer inhaltlich eingeschränkten Ermessensausübung Rechnung zu tragen. Bei Vorliegen des Eheaufhebungsgrundes nach § 1314 Abs. 1 Nr. 1 BGB und Fehlen eines Ausschlussgrundes gemäß § 1315 Abs. 1 Satz 1 BGB wird von einer Eheaufhebung danach nur dann ausnahmsweise abgesehen werden können, wenn feststeht, dass die Aufhebung in keiner Hinsicht unter Gesichtspunkten des Minderjährigenschutzes geboten ist, sondern vielmehr gewichtige Umstände gegen sie sprechen.
c) Das Beschwerdegericht hat – von seinem Rechtsstandpunkt aus folgerichtig – von dem ihm mithin zustehenden eingeschränkten Ermessen im Rahmen des § 1314 Abs. 1 Nr. 1 BGB keinen Gebrauch gemacht. Da keine weiteren Tatsachenfeststellungen zu treffen sind, ist dem Senat vorliegend eine eigene Ermessensausübung möglich (vgl. Senatsbeschluss vom 7. März 2018 – XII ZB 535/17 – FamRZ 2018, 942 Rn. 8 m. w. N.). Diese führt dazu, dass von einer Eheaufhebung abzusehen ist.
Umstände, die eine Eheaufhebung zum Schutz der bei Eheschließung fast 17-jährigen Antragsgegnerin nach dem dargestellten Maßstab gebieten würden, liegen nicht vor. Vielmehr ist sie inzwischen 35 Jahre alt, hat die fast 14 Jahre des ehelichen Zusammenlebens mit dem Antragsgegner ausschließlich in Deutschland verbracht und nach Erreichen der Volljährigkeit mit diesem zusammen vier eheliche Kinder gezeugt. Eine Eheaufhebung würde mithin in krassem Gegensatz zu der langjährig bewusst im Erwachsenenalter gelebten Familienwirklichkeit stehen. Wie die Geschehnisse seit der Trennung verdeutlichen, ist die Antragsgegnerin ohne weiteres zu einem selbstbestimmten, von ihrem Ehemann unabhängigen Leben in der Lage. Nicht zuletzt die zu den Ehen von Personen, die bei Eheschließung jünger als 16 Jahre alt waren, in der Überleitungsvorschrift des Art. 229 § 44 Abs. 4 Nr. 1 EGBGB getroffene gesetzgeberische Wertung spricht maßgeblich dafür, die Ehe der fast 15 Jahre vor dem Stichtag (22. Juli 1999) geborenen Antragsgegnerin uneingeschränkt als wirksam anzusehen und daher nicht aufzuheben. Soweit die Antragsgegnerin die Aufhebung der langjährig gelebten Ehe wünscht, führt dies zu keinem anderen Ergebnis der Ermessensausübung, weil sie über die Aufhebung der Ehe nicht disponieren kann. Vielmehr steht ihr insoweit die Scheidung der Ehe offen.