STREIT 2/2024

S. 75-77

OLG Frankfurt, §§ 1666, 1666a, 1684 BGB

Keine Fremdunterbringung eines Kindes für den Beziehungsaufbau zum abgelehnten Elternteil

1. Die Beeinflussung des Kindes durch einen Elternteil und die dadurch bei dem Kind hervorgerufene Umgangsverweigerungshaltung gegenüber dem anderen Elternteil reicht für sich genommen regelmäßig nicht aus, um eine Fremdunterbringung zu veranlassen.
2. Eine unberechtigte Umgangsverweigerung und die dem zugrunde liegende fehlende Bindungstoleranz beim Obhutselternteil kann allein nicht dazu führen, dass eine Kindeswohlgefährdung angenommen wird.
3. Eine Maßnahme, mit der ein Kind über eine Fremdunterbringung dazu gebracht werden soll, gegen seinen Willen zu dem Elternteil zu wechseln, mit dem es aktuell jeden Umgang ablehnt, kann nicht auf §§ 1666, 1666a BGB gestützt werden, weil diese Maßnahme in der Regel weder geeignet noch verhältnismäßig im engeren Sinne ist.
4. Die Unterbringung in einer stationären Einrichtung zum Zweck des Beziehungsaufbaus zum aktuell abgelehnten Vater stellt einen nicht zu begründenden Eingriff in die grundgesetzlich verbürgten Persönlichkeitsrechte des Kindes dar. Das gilt vor allem dann, wenn das Kind im Haushalt der Mutter dem Grunde nach gut versorgt war und sich keine Aspekte ergeben, die aus anderem Grund eine Fremdunterbringung rechtfertigen würden. Unter solchen Umständen kann der entgegenstehende Wille eines neun Jahre alten Mädchens nicht ohne weiteren Anlass übergangen werden.
(amtliche Leitsätze)
Beschluss des OLG Frankfurt vom 3. April 2024 – 7 UF 46/23

Zum Sachverhalt:
In dem vorliegenden Beschwerdeverfahren waren Maßnahmen des Familiengerichts nach §§ 1666, 1666a BGB für das am XX.XX.2014 geborene Kind X zu überprüfen.
Die 2014 geborene X ist aus der nichtehelichen Beziehung ihrer Eltern hervorgegangen, die im Mai 2020 endgültig endete. Aufgrund einer gemeinsamen Sorgeerklärung waren die Eltern bislang gemeinsam sorgeberechtigt. X lebte bisher durchgehend bei ihrer Mutter. Die gescheiterte Paarbeziehung der Eltern ist hochkonflikthaft. X besuchte ihren Vater letztmals am 28.11.2021. Danach weigerte sich X, zu ihrem Vater zu gehen. Infolgedessen beantragte die Kindesmutter die Aussetzung des Vater-Kind-Umgangs. Am 22.12.2021 erstattete die Kindesmutter bei der Kriminalpolizei in Stadt3 telefonisch eine Strafanzeige gegen den Kindesvater wegen sexuellen Missbrauchs von X. Das Strafverfahren ist noch anhängig.

Aus den Gründen:
I. Das Umgangsverfahren […] wurde, nach Einholung eines Sachverständigengutachtens, am 23.3.2022 mit einer weiteren familiengerichtlich gebilligten Umgangsvereinbarung abgeschlossen, wonach der Kindesvater begleiteten Umgang mit X haben sollte. Dieser wurde 3 mal durchgeführt. X lehnte ihren Vater jedoch weiterhin ab, so dass der Kindesvater auf weitere Umgangskontakte verzichtete. […] Mit einer einstweiligen Anordnung vom 5.12.2022 […] setzte das Amtsgericht Stadt3 den Vater-Tochter-Umgang vorläufig aus.
Bereits am 15.9.2022 hatte der Kindesvater beim Amtsgericht das vorliegende neue sorgerechtliche Verfahren eingeleitet. Seiner Meinung nach sei X dringend aus dem mütterlichen Haushalt herauszunehmen. Die gegen ihn erhobenen strafrechtlichen Vorwürfe seien unzutreffend. In seinem familienpsychologischen Gutachten vom 16.3.2023 empfahl der Sachverständige V, der Kindesmutter das Sorgerecht zu entziehen. […]
Noch vor der Übersendung des Gutachtens an die Verfahrensbeteiligten eröffnete das Amtsgericht Stadt3 unter dem Aktenzeichen […] ein gesondertes einstweiliges Anordnungsverfahren und erließ dort am 23.3.2023 ohne eine Anhörung der Beteiligten eine einstweilige Anordnung, mit der den Eltern das Aufenthaltsbestimmungsrecht für X vorläufig entzogen und dem Jugendamt als Pfleger übertragen wurde. Ferner ordnete das Amtsgericht an, dass X per Gerichtsvollzieher an das Jugendamt herauszugeben sei. Der Beschluss wurde am 24.3.2023 vollzogen, indem X an diesem Tag aus der Schule abgeholt und gegen ihren Willen in eine Inobhutnahmestelle des Jugendamtes gebracht wurde. […]
Mit dem angefochtenen Beschluss vom 12.4.2023 hat das Amtsgericht den Eltern das Aufenthaltsbestimmungsrecht, die Gesundheitsfürsorge und die Vertretung in sozialrechtlichen und sozialversicherungsrechtlichen Angelegenheiten für X in der Hauptsache entzogen und dem Jugendamt als Pfleger übertragen. Diese Entscheidung sei gemäß §§ 1666 Abs.1, 3 Nr.6, 1666a Abs.1 S.1 BGB zum Wohl von X erforderlich. […] Am 17.4.2023 hat die Kindesmutter Beschwerde eingelegt. Dasselbe Rechtsmittel hat der Kindesvater am 19.4.2023 eingelegt.
Mit Beschluss vom 10.5.2023 hat der Senat die Vollziehung des erstinstanzlichen Beschlusses einstweilen bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens gemäß § 64 Abs.3 FamFG ausgesetzt. Ferner hat der Senat angeordnet, dass X unverzüglich wieder in die Obhut der Kindesmutter zurückzuführen ist. Diesem Beschluss haben die Beteiligten Folge geleistet. Aktuell besucht X die 3. Klasse der Schule1. Im Alltag wird sie von ihrer Mutter gut versorgt und betreut. Aufgrund eines Antrages des Kindesvaters leitete das Jugendamt einen begleiteten Umgang ein. Seit dem 5.2.2024 hat der Kindesvater einmal pro Woche für jeweils eine Stunde Umgang mit X, welcher von den Fachkräften des Instituts P in den dortigen Räumlichkeiten begleitet wird.
Am Ende des Senatstermins am 13.3.2024 hat der Kindesvater erklärt, mit der Wiederherstellung der gemeinsamen elterlichen Sorge beider Eltern einverstanden zu sein. Er erklärte auch sein Einverständnis, dass X in der Obhut ihrer Mutter lebt. Die Beziehung zu seiner Tochter wolle er im Wege des inzwischen eingeleiteten begleiteten Umgangs wiederherstellen. Am 13.3.2024 hat der Sachverständige V sein Gutachten mündlich erläutert und ergänzt. Hierbei hat der Sachverständige V empfohlen, X in der Obhut ihrer Mutter zu belassen.

II. Die gemäß §§ 58 ff. FamFG zulässigen Beschwerden der Kindeseltern führen zur Aufhebung des erstinstanzlichen Beschlusses mit der Folge, dass die elterliche Sorge für X wieder uneingeschränkt von beiden Eltern gemeinsam ausgeübt wird. Beide Beschwerden sind begründet, da die Voraussetzungen für eine vollständige oder teilweise Entziehung der elterlichen Sorge nach §§1666, 1666a BGB nicht annähernd erfüllt sind. Dies gilt sowohl für die Kindesmutter als auch für den Kindesvater.
Gemäß § 1666 Abs.1 BGB hat das Familiengericht die zur Abwendung der Gefahr erforderlichen Maßnahmen zu treffen, wenn das körperliche, geistige oder seelische Wohl eines Kindes oder sein Vermögen gefährdet und die Eltern nicht gewillt oder nicht in der Lage sind, die Gefahr abzuwenden. Hierbei ist insbesondere der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz des § 1666a Abs.1 S.1 BGB zu beachten, wonach Maßnahmen, mit denen eine Trennung des Kindes von der elterlichen Familie verbunden ist, nur zulässig sind, wenn der Gefahr nicht auf andere Weise, auch nicht durch öffentliche Hilfen, begegnet werden kann. Deshalb gelten für eine Trennung des Kindes von seiner elterlichen Familie nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes und des Bundesgerichtshofes besonders strenge Anforderungen. […]
Sofern eine Trennung des Kindes von den Eltern in Betracht kommt, sind nach der gefestigten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die negativen Folgen einer Trennung des Kindes von den Eltern und einer Fremdunterbringung zu berücksichtigen und müssen durch die hinreichend gewisse Aussicht auf Beseitigung der festgestellten Gefahr aufgewogen werden, so dass sich die Situation des Kindes in der Gesamtbetrachtung verbessert (BVerfG FamRZ 2021, 753; BVerfG ZKJ 2014, 242; BVerfG FamRZ 2014, 1270). Die Folgen der Fremdunterbringung für das Kind dürfen nicht gravierender sein als die Folgen eines Verbleibs in der Herkunftsfamilie (­BVerfG FamRZ 2015, 208). Von einer derart erheblichen Gefährdung des Kindeswohls, die eine Trennung von X von ihrer Mutter als ihre Hauptbezugsperson erforderlich macht, kann vorliegend keine Rede sein. […]
Für die hier zu erwägenden familiengerichtlichen Maßnahmen ist nach alledem zugrunde zu legen, dass ein strafrechtlich relevantes Verhalten des Vaters nicht mit der notwendigen Sicherheit festgestellt werden kann. Auch wenn die Abschlussverfügung der Staatsanwaltschaft noch aussteht, fehlt es offensichtlich an einem hinreichenden Tatverdacht. Ebenso wenig kann allerdings mit der notwendigen Sicherheit festgestellt werden, dass die Mutter Falsch­aussagen des Kindes erzeugt hat. Dabei teilt der Senat nicht die Überzeugung des Sachverständigen V, dass von einer bewussten Manipulation und Entfremdung des Kindes durch die Mutter auszugehen sei. Tatsächlich reichen die Erkenntnisse nicht aus, um eine derart pauschale und weitreichende Betrachtung anzustellen. Überdies hat der Sachverständige V nicht berücksichtigt, dass der Sachverständige Q der Kindesmutter zuvor bestätigt hatte, dass die Aussagen des Kindes als glaubhaft einzustufen seien. Da die Kindesmutter die Mangelhaftigkeit des Gutachtens des Sachverständigen Q nicht erkennen konnte, hatte sie aus ihrer Perspektive einen berechtigten Grund, von einem Missbrauchsgeschehen auszugehen und dieses durch weitere Befragungen umfassend aufzudecken. Dementsprechend kann keinesfalls von einer bewussten Manipulation und gewollten Entfremdung des Kindes durch die Mutter ausgegangen werden. […]

Auf dieser tatsächlichen Basis ist die vom Amtsgericht angeordnete Teilentziehung der elterlichen Sorge gemäß §§ 1666, 1666a BGB unter keinem Gesichtspunkt gerechtfertigt. Ebenso wenig waren und sind die hiermit verbundene Trennung des Mädchens von ihrer Mutter und die Fremdunterbringung rechtmäßig, sondern stellen eine Grundrechtsverletzung des Kindes dar. […]
Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts reicht die Beeinflussung des Kindes durch einen Elternteil und die dadurch bei dem Kind hervorgerufene Verweigerungshaltung gegenüber dem anderen Elternteil für sich genommen regelmäßig nicht aus, um eine Unterbringung des Kindes bei Dritten zu veranlassen. Wegen des Fehlverhaltens eines Elternteils würde das Kind ansonsten praktisch beide verlieren (BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 22. September 2014 – 1 BvR 2108/14 -, FamRZ 2015, 208, Rn. 11). Überdies hat das Bundesverfassungsgericht klargestellt, dass der Wille des Kindes zu berücksichtigen ist, soweit das mit seinem Wohl vereinbar ist. Mit der Kundgabe seines Willens macht das Kind zum einen von seinem Recht zur Selbstbestimmung Gebrauch. […]
Demgemäß kann allein eine mutmaßlich unberechtigte Umgangsverweigerung und die dem zugrunde liegende fehlende Bindungsintoleranz beim Obhuts­elternteil grundsätzlich nicht dazu führen, dass eine Kindeswohlgefährdung angenommen und ein Kind über eine Fremdunterbringung dazu gebracht werden kann, zu dem Elternteil zu wechseln, mit dem es aktuell jeden Umgang ablehnt. Der Beschluss des Amtsgerichts scheint von der Annahme getragen, dass der „Umgangsboykott“ das Kindeswohl derart schädigt, dass die elterliche Sorge entzogen werden muss. Vielmehr muss zwingend berücksichtigt werden, dass X – so zeigte die erstinstanzliche Kindesanhörung vom 30. März 2023 – durch die abrupte Herausnahme aus dem Haushalt ihrer Mutter, die für X seit ihrer Geburt die maßgebliche Bezugsperson ist, sehr stark traumatisiert wurde. X fühlt sich mit ihren Aussagen nicht gehört und bestraft, erkennt außerdem eine für sie völlig unverständliche Bestrafung der Mutter. Der Senat kann nicht erkennen, dass die Gefühls- und Vorstellungswelt des Kindes – mithin dessen Grundrechte (vgl. zur verfassungsgemäß gebotenen Achtung der Äußerungen und des Willens des Kindes auch Brandenburgisches Verfassungsgericht, Beschluss vom 24.01.2014 – VfGBbg 13/13) – bei den notwendigen Abwägungen nach § 1666a BGB adäquat berücksichtigt worden sind. X hatte sich bis zum Zeitpunkt der Herausnahme aus dem Haushalt ihrer Mutter klar dahin geäußert, dass sie keinen Umgang mit dem Vater wünscht. […]
Dieser Wille des inzwischen 9 Jahre alten Mädchens kann kaum unberücksichtigt bleiben. Die im Beschwerdeverfahren durchgeführte Kindesanhörung hat bestätigt, dass X unbedingt bei ihrer Mutter wohnen bleiben möchte. Zum Vater möchte sie lediglich Besuchskontakte haben, wobei sie sich aktuell lediglich begleiteten Umgang vorstellen kann. […]
Entscheidend ist vielmehr, dass die Kindesmutter durchgehend in der Lage ist, X ein ausreichend kindgerechtes Umfeld zur Verfügung zu stellen und sie in ihren sozialen Fähigkeiten zu unterstützen, wie der Sachverständige V in seinem schriftlichen Gutachten vom 16.3.2023 dargelegt hat. X ist bei ihrer Mutter gut aufgehoben. Ihre schulische Entwicklung ist gut und im Alltag des Kindes kommt es zu keinen Auffälligkeiten. Sie geht gern in die Schule und zeigt ein gutes Sozialverhalten. Auch die Kindesanhörung ergab ein in jeder Hinsicht intelligentes und gut entwickeltes Kind. Daraus folgt, dass die Kindesmutter im Wesentlichen als erziehungsfähig anzusehen ist.
Eine Herausnahme des Kindes aus diesem Haushalt allein zur Wiederherstellung der Vater-Tochter-Beziehung kann daher kaum mit dem Kindeswohl vereinbart werden. Vielmehr hat die Inobhutnahme des Kindes zu einer schweren Traumatisierung von X geführt. Allein hierin war eine Kindeswohlgefährdung zu sehen, die sich nicht wiederholen darf. […]