STREIT 1/2022

S. 13-14

Mexikos Oberster Gerichtshof hat ein absolutes Abtreibungsverbot für verfassungswidrig erklärt

Am 07.09.2021 entschied der Oberste Gerichtshof von Mexiko einstimmig, dass eine allgemeine Kriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen verfassungswidrig ist, und betonte, dass das Entscheidungsrecht von Frauen und Schwangeren an oberster Stelle steht.
In Mexiko waren Abtreibungen bisher nur in Mexiko-Stadt und den Bundesstaaten Hidalgo, Oaxaca und Veracruz bis zur zwölften Schwangerschaftswoche straffrei.
Der Entscheidung zugrunde lag eine Abtreibung in Coahuila und die Anwendung des Artikels 196 des nationalen Strafgesetzbuchs. Dieser Artikel sieht eine Gefängnisstrafe sowohl für eine Frau vor, die freiwillig eine Abtreibung vornimmt als auch für Personen, die sie dabei unterstützen.
Der Oberste Gerichtshof hält die Leibesfrucht grundsätzlich für schutzwürdig, wobei er davon ausgeht, dass der Schutz mit fortschreitender Schwangerschaft zunimmt. Allerdings dürfe dieser Schutz nicht die Rechte von Frauen und Schwangeren auf reproduktive Freiheit außer Acht lassen. Daher erklärten die Bundesrichter die generelle Kriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs für verfassungswidrig und somit Artikel 196 für nichtig.

Ausgangspunkt sind die beiden ersten Absätze des Artikel 4 der mexikanischen Verfassung. In Absatz 1 heißt es, „Frauen und Männer sind vor dem Gesetz gleich. Das Gesetz schützt die Organisation und Entwicklung der Familie“. In Absatz 2 heißt es, „Jede Person hat das Recht, frei, verantwortungsbewusst und informiert über die Anzahl der Kinder und deren Abstand zueinander zu entscheiden“.
Der Gerichtshof stellt fest:

„Ein Blick auf das Verfahren der Verfassungsreform, das zu dieser Bestimmung geführt hat, zeigt, dass der Gesetzgeber die Pflicht des Staates festschreiben wollte, nicht in eine persönliche Entscheidung wie die Familienplanung einzugreifen […]. Der Artikel 4 der Verfassung erkennt verschiedene Grundrechte wie die Gleichstellung der Geschlechter und den Schutz der Familie an, lehnt das Verbot oder die Beschränkung des Kinderkriegens ab und beinhaltet das Recht des Einzelnen, nicht zum Kinderkriegen gezwungen zu werden“.

Neben Artikel 4 wird die Entscheidung auch auf die Menschenwürde als Ursprung, Wesen und Ziel aller Menschenrechte gestützt, die in Artikel 1 der politischen Verfassung festgelegt ist. Dazu führt das Gericht aus:

„Das, was wir die Menschenwürde nennen, ruht auf zwei Säulen, dem Gewissen und der Freiheit, als Ausgangspunkt für die maximale Verwirklichung der freien Entfaltung der individuellen Persönlichkeit. […] So ist die Mutterschaft als exklusive Möglichkeit der Frau nicht von ihrer Würde zu trennen, die ‚ein der Person innewohnender geistiger und sittlicher Wert ist, der sich in einzigartiger Weise in der bewussten und verantwortlichen Selbstbestimmung des eigenen Lebens manifestiert und der den Anspruch auf die Achtung der anderen mit sich bringt‘.“

Der Gerichtshof vertritt überdies die Auffassung, dass die föderalen Einheiten nicht befugt sind, den Begriff der „Person“ zu definieren. Es sei verfassungswidrig, dem Embryo oder Fötus den Status einer Person zu verleihen, da auf diese Weise Entscheidungen getroffen werden, die gegen die reproduktive Autonomie verstoßen.
Weiter heißt es:

„Obwohl das Leben ein wesentliches und grundlegendes Recht ist, weil ohne seine Existenz kein Platz für andere Rechte ist, kann daraus nicht abgeleitet werden, dass es Vorrang vor allen anderen Rechten hat, wobei zu berücksichtigen ist, dass die Interamerikanische Menschenrechtskommission zu dem Schluss gekommen ist, dass das Recht auf Leben seinen Schutzbereich nicht auf den Moment der Empfängnis ausdehnt“.

Der Gerichtshof stellt des Weiteren fest, dass die Menschenrechte von Frauen geachtet werden müssen und dass es eine diskriminierende Praxis sei, Frauen daran zu hindern, ihre reproduktiven Rechte frei auszuüben und selbst zu entscheiden, ob sie eine Abtreibung vornehmen lassen wollen oder nicht. Dies würde auch dem Ziel der Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen zuwiderlaufen.

Der Gerichtshof traf auch eine Entscheidung zur Nichtigkeit des Artikels 198 des Strafgesetzbuchs, der Frauen daran hindert, sich bei einem freiwilligen Schwangerschaftsabbruch von medizinischem Personal helfen zu lassen. Zudem erklärte er Teile von Artikel 199 des Strafgesetzbuchs für nichtig, der die Möglichkeit der Abtreibung im Falle einer Vergewaltigung auf 12 Wochen beschränkt.
Schließlich erklärte der Gerichtshof Artikel 224, Abschnitt II des örtlichen Strafgesetzbuches für den Bundesstaat Hidalgo für ungültig, welcher die Festlegung eines geringeren Strafmaßes für Vergewaltigung unter Ehegatten, Lebensgefährten und Lebenspartnern vorsieht.

Die Bundesrichter*innen argumentierten in ihren Plädoyers aus verschiedenen Richtungen, kamen aber einstimmig zum Ergebnis, dass die generelle Kriminalisierung von freiwilligen Abtreibungen verfassungswidrig ist.
Richter Zaldívar betonte, dass der Straftatbestand in der Realität Armut bestrafe. Richterin Piña Her­nandez argumentierte hingegen: „Diese Art von Regelungen bestrafen letztlich das sexuelle Verhalten der Frau.“ Sie erklärte dazu, dass nur wenn die Schwangerschaft ein Ergebnis einer Vergewaltigung ist, die Schwangere selbstbestimmt entscheiden dürfe. Wenn sie ohne diese Zwangslage die Schwangerschaft nicht fortsetzen möchte, werde sie aber bestraft. Richterin Ana Margarita Ríos Farjat stellte klar, dass aus der mexikanischen Verfassung weder ein Abtreibungsverbot hervorgehe noch der Verfassung entnommen werden könne, dass das Leben von der Empfängnis an geschützt ist. Überdies haben sich die Unterzeichnerstaaten der Amerikanischen Menschenrechtskonvention nicht darauf geeinigt, wann das Leben beginnt, das Interamerikanische Menschenrechtssystem habe jedoch anerkannt, dass das Leben geschützt wird, indem die schwangere Person geschützt wird.
Da die Bundesrichterinnen einstimmig mit mehr als acht Stimmen für die Nichtigkeit des Artikels 196 des Strafgesetzbuchs gestimmt haben, ist die Argumentation des Gerichts für alle Richterinnen in Mexiko, sowohl auf Bundes- als auch auf kommunaler Ebene, bindend. Von nun an werden deshalb alle mexikanischen Gerichte bei der Entscheidung zukünftiger Fälle die Strafnormen der jeweiligen Bundesstaaten, die den Schwangerschaftsabbruch unter Strafe stellen, als verfassungswidrig betrachten müssen.
Der vorsitzende Richter des Obersten Gerichtshofs erklärte, dass dies eine historische Entscheidung im Kampf für die Rechte und Freiheiten der Frauen sei, insbesondere für die am meisten gefährdeten Frauen.

Diese Zusammenfassung wurde erstellt aus dem Urteil des Obersten mexikanischen Gerichtshofs vom 07.09.2021, Az. 148/2017 (www.scjn.gob.mx/sites/default/files/proyectosresolucionscjn/documento/
2021-08/AI%20148.2017.pdf), der Pressemitteilung des Obersten Gerichtshofs vom 07.09.2021 Nr. 271/2021 und dem Zeitungsartikel Linea de contraste: „Suprema Corte declara inconstitucional castigar con prisión a mujeres que deciden abortar“ vom 9.9.2021.
Übersetzungen RAin Katharina Gruber,
Hamburg