STREIT 1/2022

S. 20-23

BAG, Art. 6 Richtlinie 96/71/EG (Entsende-­Richtlinie), § 15 AentG, §§ 1, 20 MiLoG, § 286 ZPO

Mindestlohn für 24-Stunden-Pflege

Nach Deutschland in einen Privathaushalt ent­sandte ausländische Betreuungskräfte haben, soweit nicht der Anwendungsbereich der Verordnung über zwingende Arbeitsbedingungen für die Pflegebranche eröffnet ist, Anspruch auf den gesetzlichen Mindestlohn nicht nur für Vollarbeit, sondern auch für Bereitschaftsdienst.
(amtlicher Leitsatz)

Urteil des BAG vom 24.6.2021, 5 AZR 505/20

Aus dem Sachverhalt:
Die Parteien streiten über Differenzvergütung nach dem Mindestlohngesetz für den Zeitraum Mai bis August 2015 und Oktober bis Dezember 2015.
Die Klägerin ist bulgarische Staatsangehörige mit Wohnsitz in Bulgarien. Sie schloss mit der Beklagten, einem Unternehmen mit Sitz in Bulgarien, unter dem 8. April 2015 einen in bulgarischer Sprache abgefassten Arbeitsvertrag. […]
Unter dem 15. April 2015 unterschrieb die Klägerin eine „Erklärung“, wonach sie u.a. zur Kenntnis genommen habe, dass ihre „Netto-Endvergütung“ für einen vollen Monat 950 Euro betrage. Des Weiteren unterzeichnete sie am selben Tag eine „Vereinbarung“, die übersetzt auszugsweise lautet: […]
„1. Ich bin damit einverstanden, in der Republik Deutschland an einem 6-Stunden-Arbeitstag mit einer täglichen Ruhezeit von 60 Minuten und einer wöchentlichen Ruhezeit von 2 Arbeitstagen – Samstag und Sonntag – zu arbeiten. […]
4. Ich bin mit der Bedingung einverstanden, keine Überstunden zu machen.“

Die Klägerin wurde nach Berlin entsandt und arbeitete im Haushalt der über 90-jährigen zu betreuenden Person, bei der sie auch ein Zimmer bewohnte. Ihre Aufgaben umfassten neben Haushaltstätigkeiten (wie Einkaufen, Kochen, Putzen etc.) eine „Grund­ver­sorgung“ (wie Hilfe bei der Hygiene, beim Ankleiden u.a.) und soziale Aufgaben (z.B. Gesellschaft leisten, Ansprache, gemeinsame Interessenverfolgung). Dem zugrunde lag ein auf Vermittlung der Deutschen S, einer in Deutschland ansässigen Agentur, zwischen der Beklagten und der zu betreuenden Person – für diese handelnd deren Sohn – geschlossener Dienstleistungsvertrag, der auszugsweise folgende Regelungen enthält:
„§ 1 Allgemeine Bestimmungen […]
(2) Der Leistungsgeber sorgt dafür, dass seine entsendeten Arbeitnehmer pünktlich und gewissenhaft ihren Dienst versehen, sowie über die Anforderungen des Leistungsnehmers / Leistungsempfängers informiert sind. […]
(5) Der Leistungsnehmer versichert, keine Weisungen zur Art und Weise der zu erledigenden Aufgaben des entsandten Mitarbeiters auszuüben. […]
§ 2 Leistungsbeschreibung
Der Leistungsgeber verpflichtet sich, durch seine Mitarbeiter für die oben bestimmte Zeit und nach der konkreten Bedarfserhebung (Grundlage ist der durch den Leistungsnehmer beim Vermittler ‚Deutsche S‘ eingereichte Erhebungs-/Fragebogen, welcher von diesem an den Leistungsgeber weitergeleitet wurde) Dienstleistungen für den Leistungsnehmer im oben genannten Haushalt zu erbringen. Der Leistungsumfang bezieht sich auch auf nachfolgende Tätigkeiten:

  • Hilfe bei der Ausübung der alltäglichen Aktivitäten

  • Haushaltstätigkeiten wie Aufräumen, Waschen, Nahrungszubereitung etc.

  • Mit der Betreuung und der Ernährung verbundene Einkäufe

  • Terminvereinbarung mit Ärzten und Begleitung zu Arztterminen (falls die Sprachkenntnisse hierfür ausreichend sind)

  • Hilfe beim Verlassen der Wohnräume (Spaziergänge, Termine etc.)

  • Soziale Aufgaben (Gesellschaft leisten, Ansprache, Kommunikation, gemeinsame Interessenverfolgung etc.)

  • Grundversorgung (Hilfe bei der Hygiene, beim Ankleiden etc.) solange es sich hierbei nicht um den überwiegenden Teil der Leistungserbringung handelt.

  • Sowie weitere Tätigkeiten, die nach der Anerkennung, Qualifikation und Erfahrung des Personals für die Sicherung der ordentlichen Betreuung des Auftraggebers notwendig sind.

Ausdrücklich ausgenommen von den Leistungen sind schwere Garten- und Feldarbeiten, medizinische Dienstleistungen und professionelle pflegerische Tätigkeiten der Behandlungspflege, die eine Fachausbildung erfordern, wie zum Beispiel Injektionen oder Verbandswechsel.
§ 3 Unterbringung / Verpflegung / Zutrittsrecht / Freizeitregelung

  1. Der Leistungsnehmer stellt dem Mitarbeiter ein Zimmer zur alleinigen Nutzung zur Verfügung. […]

  2. Der Leistungsnehmer sorgt für angemessene Verpflegung in normal üblicher Qualität und ausreichender Quantität. Die Verpflegungs- und Unterkunftskosten werden nicht gesondert in Rechnung gestellt, sondern wurden bei Verhandlungen und Vereinbarung der Vergütung berücksichtigt und einkalkuliert. […]

  3. Die Freizeit-/Pausenregelung erfolgt nach gegenseitiger Absprache bzw. entsprechend den Vereinbarungen im Fragebogen sowie unter Berücksichtigung der Betreuungssituation vor Ort.“

In dem in § 2 Dienstleistungsvertrag erwähnten Erhebungs-/Fragebogen ist auszugsweise Folgendes angegeben:
„Angedachter Einsatz:
24 Stunden Betreuung/Pflege […]
Folgende Tätigkeiten sind für die betreuungsbed. / pflegebed. Person zu leisten:
Körperpflege im Bett, Zubereitung von Frühstück, Mittag, Vesper, Abendessen; Hilfestellung beim Essen und Trinken; Windelkontrolle und Wechsel; Wäsche Waschen; Einkaufen
Andere Aufgabenbereiche:
Einkaufen; Kochen; Putzen; Waschen; Bügeln
Weitere Angaben zur pflegebedürftigen Person:
leidet an Altersschwäche; Pflegestufe: 2
Wie kann der Zustand der pflegebedürftigen Person beschrieben werden:
geistig und körperlich krank; Altersdemenz: Nein; Nachtwachen notwendig: Ja – Umfang: Nach Bedarf; Inkontinent: Nein; Kommt ambul. Pflegedienst: Ja – Aufgaben: med. Betreuung“

Für geleistete Arbeit in den Monaten Mai bis August 2015 und Oktober bis Dezember 2015 erhielt die Klägerin eine Vergütung von 950 Euro netto monatlich sowie weitere 30 Euro netto für zwei Feiertage im Dezember 2015, insgesamt 6.680 Euro netto. […]

Die Klägerin hat erstinstanzlich beantragt, die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin 47.124 Euro brutto abzüglich 6.680 Euro netto nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Klagezustellung zu zahlen.
Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt und gemeint, sie schulde den gesetzlichen Mindestlohn nur für die arbeitsvertraglich vereinbarte Arbeitszeit von 30 Wochenstunden. In dieser Zeit hätten die der Klägerin obliegenden Aufgaben ohne Weiteres erledigt werden können. Bereitschaftsdienst sei nicht vereinbart gewesen. Sollte die Klägerin tatsächlich mehr gearbeitet haben, sei dies nicht auf Veranlassung der Beklagten erfolgt. […]
Das Arbeitsgericht hat […] der Klägerin für geleistete Arbeit ausgehend von einer Arbeitszeit von 24 Stunden arbeitstäglich und 209 Arbeitstagen insgesamt 42.636 Euro brutto abzüglich erhaltener 6.680 Euro netto nebst Prozesszinsen zugesprochen. Auf die Berufung der Beklagten hat das Landesarbeitsgericht unter Zurückweisung der Berufung im Übrigen das Ersturteil teilweise abgeändert und der Klage – ausgehend von einer geschätzten Arbeitszeit von 21 Stunden arbeitstäglich und 215 Arbeitstagen – in Höhe von 38.377,50 Euro brutto abzüglich 6.680 Euro netto nebst Prozesszinsen entsprochen.

Aus den Gründen:
Die Revision der Beklagten und die Anschlussrevision der Klägerin sind begründet und führen zur Aufhebung des Berufungsurteils1 und Zurückverweisung der Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Landesarbeitsgericht (§ 562 Abs. 1, § 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO). […]
II.) Die Revision der Beklagten ist begründet. […]
1.) Für die Klage sind die deutschen Gerichte für Arbeitssachen gemäß § 15 Satz 1 AEntG international zuständig. […]
b) Die internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichtsbarkeit in derartigen Fällen ist gegeben. Art. 6 Richtlinie 96/71/EG (Entsende-Richtlinie) sieht ausdrücklich vor, dass Klagen wie die vorliegende (auch) in dem Mitgliedstaat erhoben werden können, in dessen Hoheitsgebiet der Arbeitnehmer entsandt ist oder war (zu dem in Art. 2 Abs. 1 Richtlinie 96/71/EG definierten unionsrechtlichen Begriff der Entsendung vgl. etwa EuGH 1. Dezember 2020 – C-815/18 – [Federatie Nederlandse Vakbeweging] Rn. 43 ff. m.w.N.) […]

3.) Die Klage ist dem Grunde nach begründet. Die Klägerin hat gegen die Beklagte nach § 1 Abs. 1 i.V.m. § 20 MiLoG für die von ihr im Inland geleistete Arbeit Anspruch auf Zahlung eines Arbeitsentgelts mindestens in Höhe des gesetzlichen Mindestlohns.
a) Der Anspruch der Klägerin aus § 1 Abs. 1 MiLoG und die korrespondierende Verpflichtung der Beklagten nach § 20 MiLoG bestehen. […] Durch die ausdrückliche Verpflichtung auch von Arbeitgebern mit Sitz im Ausland zur Zahlung des Mindestlohns hat § 20 MiLoG international zwingende Wirkung (Riechert/Nimmerjahn MiLoG 2. Aufl. § 20 Rn. 4) und ist jedenfalls eine Eingriffsnorm i.S.v. Art. 9 Abs. 1 Rom I-VO, die unabhängig davon gilt, ob im Übrigen deutsches Recht auf das Arbeitsverhältnis Anwendung findet (ganz h.M., vgl. nur Riechert/Nimmerjahn MiLoG 2. Aufl. § 20 Rn. 5; Bayreuther in Thüsing MiLoG/AEntG 2. Aufl. § 1 MiLoG Rn. 67; HK-MiLoG/Schubert 2. Aufl. § 20 Rn. 2; Schaub ArbR-HdB/ Vogelsang 18. Aufl. § 66 Rn. 21; ErfK/Franzen 21. Aufl. MiLoG § 20 Rn. 1; HWK/Sittard 9. Aufl. § 20 MiLoG Rn. 2; MüKoBGB/Müller-Glöge 8. Aufl. § 20 MiLoG Rn. 1; MHdB ArbR/Krause 5. Aufl. § 61 Rn. 10; FG Berlin-Brandenburg 16. Januar 2019 – 1 K 1161/17 – Rn. 36). […]
b) Der gesetzliche Vergütungsanspruch der Klägerin nach dem Mindestlohngesetz und die entsprechende Verpflichtung der Beklagten werden nicht gemäß § 1 Abs. 3 Satz 1 MiLoG durch die im Streitzeitraum geltende Zweite Verordnung über zwingende Arbeitsbedingungen für die Pflegebranche (2. Pflege-ArbbV) verdrängt (zum Verhältnis der vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales erlassenen 2. PflegeArbbV zum Mindestlohngesetz im Einzelnen BAG 24. Juni 2020 – 5 AZR 93/19 – Rn. 26 ff.). Der Sachvortrag der Parteien bietet keine hinreichenden Anhaltspunkte für die Annahme, der Geltungsbereich der 2. PflegeArbbV sei eröffnet. Insbesondere ist nicht ersichtlich, dass die in Bulgarien ansässige Beklagte im Streitzeitraum neben der Rekrutierung und Entsendung einheimischer Betreuungskräfte nach Deutschland überhaupt einen Pflegebetrieb i.S.d. § 1 Abs. 1 Satz 2 2. PflegeArbbV, also einen solchen, der überwiegend ambulante, teilstationäre oder stationäre Pflegeleistungen oder Krankenpflegeleistungen für Pflegebedürftige erbringt, unterhalten hätte. […]

f) Nach deutschem Mindestlohnrecht schuldet der Arbeitgeber den gesetzlichen Mindestlohn für jede tatsächlich geleistete Arbeitsstunde. Der Mindestlohn ist für alle Stunden, während derer der Arbeitnehmer die arbeitsvertraglich geschuldete Arbeit erbringt, zu zahlen (BAG 29. Juni 2016 – 5 AZR 716/15 – Rn. 24, BAGE 155, 318).
aa) Mit dem Mindestlohn zu vergütende Arbeit ist nicht nur die Vollarbeit, sondern auch die Bereitschaft (BAG 11. Oktober 2017 – 5 AZR 591/16 – Rn. 13; 29. Juni 2016 – 5 AZR 716/15 – Rn. 27 ff., BAGE 155, 318). Der Arbeitnehmer kann während des Bereitschaftsdienstes nicht frei über die Nutzung dieses Zeitraums bestimmen, sondern muss sich an einem vom Arbeitgeber bestimmten Ort bereithalten, um im Bedarfsfalle die Arbeit von sich aus (Arbeitsbereitschaft) oder „auf Anforderung“ (Bereitschaftsdienst) aufzunehmen. Arbeitsbereitschaft und Bereitschaftsdienst sind nicht nur arbeitsschutzrechtlich Arbeitszeit (zu unionsrechtlichen Vorgaben hierzu EuGH 9. März 2021 – C-580/19 – Rn. 26 ff. und – C-344/19 – Rn. 25 ff. – jeweils m.w.N.), sondern nach inländischem Recht vergütungspflichtige Arbeit (BAG 29. Juni 2016 – 5 AZR 716/15 – Rn. 28, a.a.O). Denn zu dieser zählt auch die vom Arbeitgeber veranlasste Untätigkeit, während derer der Arbeitnehmer am Arbeitsplatz oder einer vom Arbeitgeber bestimmten Stelle anwesend sein muss und nicht frei über die Nutzung des Zeitraums bestimmen kann, er also weder eine Pause (§ 4 ArbZG) noch Freizeit hat (BAG 20. April 2011 – 5 AZR 200/10 – Rn. 21, BAGE 137, 366; 19. November 2014 – 5 AZR 1101/12 – Rn. 16, BAGE 150, 82; 18. November 2015 – 5 AZR 761/13 – Rn. 13, BAGE 153, 248; 17. April 2019 – 5 AZR 250/18 – Rn. 21; 24. Juni 2020 – 5 AZR 93/19 – Rn. 27).
bb) […] Die gesetzliche Vergütungspflicht des Mindestlohngesetzes differenziert nicht nach dem Grad der tatsächlichen Inanspruchnahme und gibt damit auch für Bereitschaft einen ungeschmälerten Anspruch auf den Mindestlohn (BAG 29. Juni 2016 – 5 AZR 716/15 – Rn. 29, BAGE 155, 318; 11. Oktober 2017 – 5 AZR 591/16 – Rn. 14; 24. Juni 2020 – 5 AZR 93/19 – Rn. 27; ebenso die herrschende Meinung im Schrifttum, sh. etwa ErfK/Franzen 21. Aufl. MiLoG § 1 Rn. 4; HWK/Sittard 9. Aufl. § 1 MiLoG Rn. 7; MHdBArbR/Krause 5. Aufl. § 61 Rn. 15; MüKoBGB/Müller-Glöge 8. Aufl. § 1 MiLoG Rn. 17; Schaub ArbR-HdB/Vogelsang 18. Aufl. § 66 Rn. 23; Bayreuther in Thüsing MiLoG/AEntG 2. Aufl. § 1 MiLoG Rn. 43; HK-MiLoG/Düwell 2. Aufl. § 1 Rn. 40). […]

dd) Ohne eine im Gesetz selbst niedergelegte Staffelung fehlt es an einer Legitimation, geleistete Arbeit mit weniger als dem gesetzlichen Mindestlohn zu vergüten (so schon BAG 29. Juni 2016 – 5 AZR 716/15 – Rn. 29, BAGE 155, 318). Zwar geht das Bundesarbeitsgericht in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass für Sonderformen der Arbeit wie Arbeitsbereitschaft und Bereitschaftsdienst ein geringeres Entgelt als für Vollarbeit vorgesehen werden kann (zB BAG 17. April 2019 – 5 AZR 250/18 – Rn. 21 m.w.N.). Es ist jedoch allein Sache des Gesetzgebers und nicht der Gerichte (zu den Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung vgl. BVerfG 6. Juni 2018 – 1 BvL 7/14, 1 BvR 1375/14 – Rn. 72 ff., BVerfGE 149,126), zu entscheiden, ob Zeiten des Bereitschaftsdienstes generell oder jedenfalls im Bereich der häuslichen Pflege aus der Mindestlohnpflicht gänzlich herausgenommen oder mit einem geringeren als dem Mindestlohn für Vollarbeit vergütet werden sollen (zu einem Vorschlag für eine normative Regelung sh. Thüsing/Beden/Denzer/Bleckmann/Pöschke NZS 2021, 321, 330). Die im Schrifttum angeführten rechtspolitischen Probleme („Jede Form von [dauerhaften] Branchen- und Tätigkeitsdifferenzierungen war in der Koalition nicht konsensfähig, da damit eine Aufweichung des Konzepts eines allgemeinen und damit eben branchenübergreifenden und nicht tätigkeitsspezifischen Mindestlohns einhergegangen wäre“, Riechert/Nimmerjahn MiLoG 2. Aufl. § 1 Rn. 63) beschreiben allein das politische Unvermögen, in diesem Bereich, in dem seit langem Reformbedarf angemahnt wird (dazu pars pro toto zuletzt Thüsing/ Beden/Denzer/Bleckmann/Pöschke NZS 2021, 321, 324 ff.; siehe dazu auch die Gesamtdarstellung der Problematik bei Bucher, Rechtliche Ausgestaltung der 24-h-Betreuung durch ausländische Pflegekräfte in deutschen Privathaushalten 2018 – jeweils m.w.N.), eine gesetzliche Regelung zu treffen und hierfür die politische Verantwortung zu übernehmen. Hieraus resultiert aber entgegen der im Schrifttum geäußerten Auffassung keine rechtliche Unmöglichkeit, derartige gesetzliche Regelungen zu treffen (so aber Riechert/Nimmerjahn MiLoG 2. Aufl. § 1 Rn. 63). Auf der Grundlage des geltenden Mindestlohngesetzes ist der Rechtsprechung jedenfalls eine Rechtsfortbildung im Sinne einer Einschränkung des Anspruchs auf den gesetzlichen Mindestlohn für geleistete Bereitschaftsdienste nicht möglich. […]

4.) […] In welcher Höhe die Klage auf Differenzvergütung begründet ist, kann der Senat auf der Grundlage der bisherigen Feststellungen nicht selbst entscheiden.
a) Nach § 286 Abs. 1 ZPO haben die Tatsacheninstanzen unter Berücksichtigung des gesamten Inhalts der Verhandlung und des Ergebnisses einer etwaigen Beweisaufnahme nach ihrer freien Überzeugung darüber zu befinden, ob sie eine tatsächliche Behauptung für wahr erachten oder nicht. […]
bb) Für eine den Anforderungen des § 286 Abs. 1 ZPO genügende richterliche Überzeugung bedarf es keiner absoluten oder unumstößlichen Gewissheit im Sinne des wissenschaftlichen Nachweises (BGH 11. Juni 2015 – I ZR 19/14 – Rn. 40). Der Tatrichter darf und muss sich vielmehr mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit begnügen, der den Zweifeln Schweigen gebietet, ohne sie völlig auszuschließen (BGH 1. Dezember 2016 – I ZR 128/15 – Rn. 27; 6. Mai 2015 – VIII ZR 161/14 – Rn. 11; BAG 25. Mai 2016 – 5 AZR 135/16 – Rn. 44, BAGE 155, 202).
cc) Revisionsrechtlich ist zu überprüfen, ob sich das Berufungsgericht mit dem Prozessstoff und den Beweisergebnissen umfassend und widerspruchsfrei auseinandergesetzt hat, die Würdigung also vollständig und rechtlich möglich ist und nicht gegen Denkgesetze oder Erfahrungssätze verstößt (BGH 11. Juni 2015 – I ZR 19/14 – Rn. 32; 25. Mai 2016 – 5 AZR 135/16 – Rn. 44, BAGE 155, 202). […]

c) Für das fortgesetzte Berufungsverfahren weist der Senat darauf hin, dass die Annahme des Landesarbeitsgerichts, die Klägerin habe mehr als die im Arbeitsvertrag angegebenen 30 Wochenstunden arbeiten müssen, nach Aktenlage nicht fernliegend ist.
aa) Das Landesarbeitsgericht wird im Rahmen der Würdigung des Tatsachenvortrags und der gegebenenfalls noch zu erhebenden Beweise nach § 286 Abs. 1 ZPO festzustellen haben, ob die arbeitsvertraglich vereinbarte Wochenarbeitszeit von 30 Stunden ernsthaft gewollt war oder tatsächliche Umstände dafür sprechen, dass ein anderes Arbeitszeitvolumen dem wirklichen Willen der Parteien entsprochen hat.
(1) Hierbei wird es u.a. die Zusatzvereinbarung vom 15. April 2015 in den Blick zu nehmen haben. Darin ist bestimmt, dass die Klägerin in Deutschland an einem 6-Stunden-Arbeitstag mit einer täglichen Ruhezeit von 60 Minuten und einer wöchentlichen Ruhezeit von zwei Arbeitstagen – Sonnabend und Sonntag – zu arbeiten hatte. Welche Bedeutung einer täglichen Ruhezeit von 60 Minuten bei einem 6-Stunden-Arbeitstag zukommen soll, erschließt sich nicht ohne Weiteres. In diesem Zusammenhang wird das Landesarbeitsgericht auch die Antwort der Beklagten auf eine Nachfrage des Sohns der zu pflegenden Person zu berücksichtigen haben, wonach der Klägerin nur ein freier Tag pro Woche zustehe, der auch stundenweise gewährt werden könne. Dies steht im Widerspruch zu der getroffenen vertraglichen Vereinbarung, wonach Sonnabend und Sonntag arbeitsfrei sein sollten. Dass im Streitzeitraum, also im Jahr 2015, während des Einsatzes der Klägerin bei der zu betreuenden Person die Sonnabende und Sonntage arbeitsfrei gewesen wären oder die Klägerin auch nur einen Tag wöchentlich frei gehabt hätte, hat die Beklagte nicht einmal behauptet.
(2) Des Weiteren wird das Berufungsgericht die zwischen der Beklagten und der zu betreuenden Person geschlossenen Verträge, die eine 24-Stunden-Betreuung vorsehen, zu würdigen haben. […]

bb) Das Landesarbeitsgericht wird weiter zu prüfen haben, ob die Beklagte mit der Entsendung der Klägerin in den Haushalt der zu betreuenden Person zur Erledigung der der Beklagten dieser gegenüber obliegenden Betreuungsleistungen „Mehrarbeit“ der Klägerin veranlasst (vgl. allgemein zu dem Erfordernis der Veranlassung von Mehrarbeit durch den Arbeitgeber BAG 10. April 2013 – 5 AZR 122/12 – Rn. 14 ff. m.w.N.) und, soweit nicht Vollarbeit zu leisten war, zumindest konkludent Bereitschaftsdienst angeordnet hat. Auch hierfür dürfte einiges sprechen. […]

  1. Siehe Berufungsurteil des LAG Berlin-Brandenburg vom 17.8.2020 – 21 Sa 1900/19, in: STREIT 2021,16 ff. (dort irrtümlich als Beschluss bezeichnet).