STREIT 1/2022
S. 15-18
EGMR, Art. 2, Art. 14 EMRK
Unterlassene Schutzmaßnahmen der Polizei mitursächlich für Gewalt gegen Frauen (Georgien)
1) Die Einhaltung der positiven Verpflichtungen des Staates zum Schutz des Lebens (Art. 2 EMRK) erfordert, dass in Fällen, in denen diskriminierende Einstellungen zu einer Gewalttat geführt haben, das innerstaatliche Rechtssystem seine Fähigkeit unter Beweis stellt, das Strafrecht gegen die Urheber solcher Gewalttaten durchzusetzen (Art. 14 EMRK). Das Unterlassen eines strikten Vorgehens der Strafverfolgungsbehörden käme einer behördlichen Duldung oder sogar Duldung von Hassverbrechen gleich.
2) Unzulänglichkeiten bei der Beweiserhebung nach einem gemeldeten Vorfall häuslicher Gewalt, insbesondere der Verzicht auf eine eigenständige Einschätzung des Tötungsrisikos, können dazu führen, dass das Ausmaß der tatsächlich ausgeübten Gewalt unterschätzt wird und dass Opfer häuslicher Gewalt davon abgehalten werden, ein misshandelndes Familienmitglied bei den Behörden anzuzeigen.
3) Die allgemeine und diskriminierende Passivität der Strafverfolgungsbehörden in Georgien gegenüber Vorwürfen häuslicher Gewalt hat ein Klima geschaffen, das eine weitere Ausbreitung von Gewalt gegen Frauen begünstigt.
(Leitsätze der Redaktion)
EGMR, Urteil vom 08.07.2021 – 33056/17, (Tkhelidze ./. Georgien)
Zum Sachverhalt:
Beschwerdeführerin ist die Mutter der Frau M.T., die von massiver häuslicher Gewalt durch ihren Ehemann L.M. betroffen war. Von verschieden Seiten, u.a. auch von den Eltern des Ehemanns L.M., wurde die Polizei über die Gewalt und Drohungen informiert. Diese blieb allerdings untätig und stufte die Drohungen und Körperverletzungen als geringfügige familiäre Auseinandersetzung ein. Die Frau trennte sich und der Ehemann bedrohte sie weiterhin und erschien u.a. mit einer Handgranate in der Schule, an der sie unterrichtete, und drohte, diese zu zünden.
Die Polizei entgegnete auf die zahlreichen Anzeigen u.a. mit dem Vorschlag, dass die Brüder von M.T. ihren Ex-Mann verprügeln sollen. Die Polizei selbst könne bei reinen Drohungen nichts unternehmen. Weder der Beschwerdeführerin noch ihre Tochter wurden über die Verfahrensrechte oder die nach dem Strafgesetzbuch und dem Gesetz über häusliche Gewalt zur Verfügung stehenden gesetzlichen und administrativen Schutzmaßnahmen aufgeklärt. 6 Monate nach der ersten Anzeige erschoss der L.M. seine Ex-Partnerin an ihrem Arbeitsplatz.
Aus den Gründen:
[…] Artikel 2 der Konvention verpflichtet den Staat nicht nur, die „vorsätzliche“ Tötung von Menschenleben zu unterlassen, sondern auch, geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um das Leben der seiner Hoheitsgewalt unterstehenden Personen zu schützen (siehe Calvelli und Ciglio gegen Italien [GC], Nr. 32967/96, § 48, EGMR 2002-I). Diese substanzielle positive Verpflichtung beinhaltet erstens die primäre Pflicht des Staates, das Recht auf Leben zu schützen, indem er einen legislativen und administrativen Rahmen schafft, der eine wirksame Abschreckung gegen Bedrohungen des Rechts auf Leben bietet (siehe Öneryıldız gegen die Türkei, [GC] Nr. 48939/99, § 89, EGMR 2004-XII). Zweitens sind die Behörden unter geeigneten Umständen verpflichtet, vorbeugende operative Maßnahmen zu ergreifen, um eine Person, deren Leben durch die kriminellen Handlungen einer anderen Person bedroht ist, zu schützen (siehe Kontrová v. Slovakia, Nr. 7510/04, § 49, 31. Mai 2007). Opfer von häuslicher Gewalt, die in die Kategorie der schutzbedürftigen Personen fallen, haben insbesondere Anspruch auf staatlichen Schutz (siehe Talpis v. Italy, no. 41237/14, § 99, 2. März 2017). Wann immer Zweifel am Vorliegen von häuslicher Gewalt oder Gewalt gegen Frauen bestehen, ist eine sofortige Reaktion und weitere besondere Sorgfalt der Behörden erforderlich, um die spezifische Art der Gewalt im Rahmen des innerstaatlichen Verfahrens zu behandeln (siehe Kurt gegen Österreich [GC], Nr. 62903/15, § 165-66, 15. Juni 2021, und Volodina gegen Russland, Nr. 41261/17, § 92, 9. Juli 2019).
[…] Der Gerichtshof bekräftigt [auch], dass das Versäumnis eines Staates, Frauen vor häuslicher Gewalt zu schützen, ihr Recht auf gleichen Schutz vor dem Gesetz verletzt und dass dieses Versäumnis nicht vorsätzlich sein muss. Er hat bereits früher entschieden, dass „die allgemeine und diskriminierende Passivität der Justiz, die ein Klima schuf, das häuslicher Gewalt förderlich war“, eine Verletzung von Artikel 14 der Konvention darstellte (siehe Opuz, oben zitiert, §§ 191 ff.). Eine solche diskriminierende Behandlung lag vor, wenn nachgewiesen werden konnte, dass die Maßnahmen der Behörden nicht nur ein einfaches Versäumnis oder eine Verzögerung bei der Behandlung der betreffenden Gewalt darstellten, sondern darauf hinausliefen, diese Gewalt wiederholt zu dulden, und eine diskriminierende Haltung gegenüber der Beschwerdeführerin als Frau widerspiegelten (siehe Talpis, a. a. O., § 141).
Wenn der Verdacht besteht, dass diskriminierende Einstellungen zu einer Gewalttat geführt haben, ist es besonders wichtig, dass die offiziellen Ermittlungen mit Nachdruck und Unparteilichkeit geführt werden, wobei die Notwendigkeit zu berücksichtigen ist, die Verurteilung solcher Taten durch die Gesellschaft immer wieder zu bekräftigen und das Vertrauen der Minderheitengruppen in die Fähigkeit der Behörden, sie vor diskriminierender Gewalt zu schützen, zu erhalten. Die Einhaltung der positiven Verpflichtungen des Staates erfordert, dass das innerstaatliche Rechtssystem seine Fähigkeit unter Beweis stellt, das Strafrecht gegen die Urheber solcher Gewalttaten durchzusetzen (siehe Sabalić gegen Kroatien, Nr. 50231/13, § 95, 14. Januar 2021). Ohne ein striktes Vorgehen der Strafverfolgungsbehörden würden vorurteilsmotivierte Straftaten zwangsläufig mit gewöhnlichen Fällen ohne solche Untertöne gleichgestellt, und die daraus resultierende Gleichgültigkeit käme einer behördlichen Duldung oder sogar Duldung von Hassverbrechen gleich (siehe Identoba und andere gegen Georgien, Nr. 73235/12, § 77, 12. Mai 2015, mit weiteren Verweisen).
[…] In Anbetracht der einschlägigen strafrechtlichen Bestimmungen sowie des im Gesetz über häusliche Gewalt enthaltenen zusätzlichen Abschreckungsmechanismus […] ist das Gericht in Ermangelung eines gegenteiligen Vorbringens der Beschwerdeführerin zunächst davon überzeugt, dass ein angemessener gesetzlicher und administrativer Rahmen zur Bekämpfung häuslicher Gewalt gegen Frauen in dem Land [Georgien] im Allgemeinen bestand. Vielmehr wirft im vorliegenden Fall die Art und Weise der Umsetzung dieses Abschreckungsmechanismus durch die Strafverfolgungsbehörden, d. h. die Frage der Einhaltung der Pflicht, präventive operative Maßnahmen zum Schutz des Lebens der Beschwerdeführerin zu ergreifen, ernsthafte Bedenken auf. Bei der Beurteilung der letztgenannten Frage muss der Gerichtshof die folgenden drei Fragen beantworten: ob eine reale und unmittelbare Gefahr, die von einer identifizierbaren Person ausging, bestand, ob die inländischen Behörden von der Bedrohung wussten oder hätten wissen müssen, und, falls die beiden vorgenannten Fragen bejaht werden, ob die Behörden bei ihrer Reaktion auf die Bedrohung besondere Sorgfalt an den Tag legten (siehe z. B. Opuz, a. a. O., §§ 130 und 137-49, und vergleiche auch Kurt, a. a. O., §§ 161-79).
Das Gericht stellt fest, dass M.T. und die Beschwerdeführerin nach den Unterlagen in der Fallakte innerhalb eines sehr engen Zeitrahmens von etwa sechs Monaten, zwischen dem 29. April und dem 16. Oktober 2014, bei mindestens elf Gelegenheiten die Polizei um Hilfe gebeten haben. In ihren Aussagen brachten sie durch die Schilderung aller relevanten Details stets deutlich zum Ausdruck, wie gewalttätig das Verhalten von L.M. war. Dieser selbst gab einmal zu, dass er gedroht hatte, die Tochter der Beschwerdeführerin zu töten. Auch die Eltern von L.M. bestätigten gegenüber der Polizei die Gefährlichkeit des Verhaltens ihres Sohnes, insbesondere in betrunkenem Zustand. Darüber hinaus wusste die Polizei, dass L.M. unter pathologischer Eifersucht und anderen psychischen Labilitäten litt, Schwierigkeiten hatte, seine Wut zu kontrollieren, und außerdem vorbestraft war und Drogen und Alkohol konsumierte. Der Polizei war auch bekannt, dass M.T. ständig verschiedene Verteidigungswaffen bei sich trug und extreme Angst und Furcht empfand, wenn sie ihren Partner in der Nähe ihrer Wohnung oder ihres Arbeitsplatzes sah […].
Bei der Prüfung der Vorgeschichte ihrer Beziehung stellt das Gericht außerdem fest, dass die Gewalt, der die Tochter der Beschwerdeführerin ausgesetzt war, nicht als einzelne, voneinander getrennte Episoden betrachtet werden kann, sondern als eine dauerhafte Situation anzusehen ist. Wenn eine dauerhafte Situation häuslicher Gewalt vorliegt, kann es kaum einen Zweifel an der Unmittelbarkeit der Gefahr für das Opfer geben (vgl. Opuz, a.a.O., §§ 134 und 135; Talpis, a.a.O., § 121; Branko Tomašić u.a. gegen Kroatien, Nr. 46598/06, §§ 52 und 53, 15. Januar 2009; und vgl. Tërshana v. Albania, no. 48756/14, § 151, 4. August 2020). Das Gericht kommt daher zu dem Schluss, dass die Polizei von der realen und unmittelbaren Bedrohung der Sicherheit der Tochter der Beschwerdeführerin wusste oder zumindest hätte wissen müssen.
In Bezug auf das Erfordernis der besonderen Sorgfalt stellt das Gericht mehrere schwerwiegende Versäumnisse auf Seiten der Strafverfolgungsbehörden fest. Erstens gibt es Hinweise auf eine ungenaue oder unvollständige Beweiserhebung durch die Polizeibeamten. In diesem Zusammenhang ist der Gerichtshof der Auffassung, dass Unzulänglichkeiten bei der Beweiserhebung nach einem gemeldeten Vorfall häuslicher Gewalt dazu führen können, dass das Ausmaß der tatsächlich ausgeübten Gewalt unterschätzt wird, dass sie sich negativ auf die Aussichten auf die Einleitung strafrechtlicher Ermittlungen auswirken können und dass sie die Opfer häuslicher Gewalt, die häufig bereits unter gesellschaftlichem Druck stehen, dies nicht zu tun, sogar davon abhalten, ein misshandelndes Familienmitglied bei den Behörden anzuzeigen. In diesem Zusammenhang ist auch von Bedeutung, dass die Polizeibeamten bei der Aufnahme der Vorfälle offenbar keine eigenständige, proaktive und umfassende „Einschätzung des Tötungsrisikos“ vorgenommen haben (vgl. Kurt, a. a. O., § 168). Sie haben potenziellen Auslösefaktoren für die Gewalttätigkeit – wie z. B. der Alkoholabhängigkeit von L. M., seiner pathologischen Eifersucht, die durch die Tatsache, dass er und M. T. sich getrennt hatten, noch verstärkt wurde, usw. – nicht genügend Bedeutung beigemessen und die eigene Gefahrenwahrnehmung des Opfers, d. h. wie extrem ängstlich die Tochter der Antragstellerin tatsächlich war, nicht berücksichtigt (siehe Rdnrn. 7, 10 und 14-16; vgl. Talpis, a. a. O., § 118). Die Polizei zog es vor, die Einstufung eines Vorfalls auf eine „geringfügige familiäre Auseinandersetzung“ herabzustufen (vgl. Kontrova, a.a.O., § 54). Der Gerichtshof weist in diesem Zusammenhang ferner darauf hin, dass die Sonderberichterstatterin der Vereinten Nationen über Gewalt gegen Frauen in ihrem einschlägigen Bericht über Georgien auf dieselben Mängel bei den ersten Reaktionen der Polizei auf Anschuldigungen wegen häuslicher Gewalt hingewiesen und diese Mängel als systembedingt bezeichnet hat […].
Darüber hinaus fällt auf, dass der innerstaatliche Rechtsrahmen zwar vorübergehende restriktive Maßnahmen gegenüber dem Täter vorsah, wie etwa Schutz- und Einstweilige Verfügungen, wobei letztere sofort von einem Polizeibeamten am Tatort erlassen werden konnten, die zuständigen innerstaatlichen Behörden aber überhaupt nicht davon Gebrauch machten […].
Darüber hinaus geht aus den verschiedenen Berichten und Protokollen der Polizeibeamten nicht hervor, dass die Beschwerdeführerin oder ihre Tochter von der Polizei über ihre Verfahrensrechte und die verschiedenen gesetzlichen und verwaltungsrechtlichen Schutzmaßnahmen, die ihnen zur Verfügung stehen, belehrt wurden. Vielmehr scheinen sie irregeführt worden zu sein, da die Polizei darauf verwies, dass sie nicht in der Lage sei, den Täter festzunehmen oder andere restriktive Maßnahmen zu ergreifen (siehe oben, Randnrn. 9, 11, 13 und 15-16). Auch hier entgeht dem Gerichtshof nicht, dass die Zurückhaltung der Polizei beim Erlass von einstweiligen Verfügungen ein weiteres systembedingtes Problem darstellt, das von der UN-Sonderberichterstatterin über Gewalt gegen Frauen festgestellt wurde […]. Auch wenn die Polizei nicht ihr Bestes getan hat, um die verschiedenen Vorfälle häuslicher Gewalt angemessen zu melden, stellt der Gerichtshof fest, dass aufgrund der zahlreichen Strafanzeigen, die M.T. und die Beschwerdeführerin wiederholt erstattet haben und die die Schwere des angeblichen Verhaltens von L.M. – Zufügung von Körperverletzungen, ständige verbale Morddrohungen, Absicht, einen Verkehrsunfall zu verursachen, Drohung, das Opfer mit einer Handgranate in die Luft zu sprengen usw. – klar und überzeugend aufzeigten, dennoch genügend Beweise vorhanden waren, die die Einleitung eines Strafverfahrens gegen L. M. gerechtfertigt hätten, was die Möglichkeit eröffnet hätte, ihn in Untersuchungshaft zu nehmen. Es ist bedauerlich, dass die Strafverfolgungsbehörden dies nicht getan haben.
Der Gerichtshof stellt ferner fest, dass die Untätigkeit der einheimischen Strafverfolgungsbehörden, insbesondere der Polizei, noch unverzeihlicher erscheint, wenn man bedenkt, dass Gewalt gegen Frauen, einschließlich häuslicher Gewalt, im Allgemeinen ein großes systemisches Problem darstellt, von dem die Gesellschaft des Landes zur fraglichen Zeit betroffen ist. Den einschlägigen statistischen Daten zufolge waren von häuslicher Gewalt hauptsächlich Frauen betroffen, die etwa 87 % der Opfer ausmachten. Mehrere maßgebliche internationale Überwachungsgremien sowie das Büro des georgischen Pflichtverteidigers bestätigten diesen Missstand in der Gesellschaft und berichteten, dass die Ursachen für Gewalt gegen Frauen unter anderem in diskriminierenden Geschlechterstereotypen und patriarchalischen Einstellungen sowie in einem Mangel an besonderer Sorgfalt seitens der Strafverfolgungsbehörden zu suchen sind […].
Die zuständigen einheimischen Behörden wussten also um den Ernst der Lage, in der sich viele Frauen im Land befanden, oder hätten dies wissen müssen und hätten daher besondere Sorgfalt walten lassen und den schutzbedürftigen Mitgliedern dieser Gruppe einen verstärkten staatlichen Schutz gewähren müssen (vgl. Identoba u. a., a. a. O., § 72, und auch Tërshana, a. a. O., § 157). In Anbetracht der vorstehenden Ausführungen kann der Gerichtshof nur zu dem Schluss kommen, dass die allgemeine und diskriminierende Passivität der Strafverfolgungsbehörden gegenüber Vorwürfen häuslicher Gewalt, für die der vorliegende Fall ein perfektes Beispiel ist, ein Klima geschaffen hat, das eine weitere Ausbreitung von Gewalt gegen Frauen begünstigt. In Anbetracht dessen hat das Versäumnis des beklagten Staates, präventive operative Maßnahmen zum Schutz der Tochter der Beschwerdeführerin zu ergreifen, unabhängig davon, ob dieses Versäumnis vorsätzlich oder fahrlässig war, die Rechte der Beschwerdeführerin und ihrer Tochter auf gleichen Schutz vor dem Gesetz beeinträchtigt (vgl. Opuz, a. a. O., §§ 184-202, und Talpis, a. a. O., §§ 145 und 148).
Alles in allem stellt der Gerichtshof fest, dass die Strafverfolgungsbehörden es beharrlich unterlassen haben, Maßnahmen zu ergreifen, die eine reale Aussicht auf Änderung des tragischen Ausgangs oder auf Schadensbegrenzung hätten haben können. In eklatanter Missachtung der verschiedenen Schutzmaßnahmen, die ihnen unmittelbar zur Verfügung standen, haben die Behörden es versäumt, besondere Sorgfalt walten zu lassen, um die geschlechtsspezifische Gewalt gegen die Tochter der Beschwerdeführerin zu verhindern, die schließlich zu ihrem Tod führte. Gemessen an den ähnlichen Feststellungen der internationalen und nationalen Überwachungsgremien stellt das Gericht fest, dass die Untätigkeit der Polizei im vorliegenden Fall als systematisches Versagen angesehen werden kann. Der beklagte Staat hat somit gegen seine materiellen positiven Verpflichtungen aus Artikel 2 der Konvention in Verbindung mit Artikel 14 verstoßen. […]
Hinsichtlich der Frage, ob der Staat unter den besonderen Umständen des vorliegenden Falles eine weitere positive Verpflichtung hatte, die Untätigkeit der beteiligten Strafverfolgungsbeamten zu untersuchen und sie zur Verantwortung zu ziehen, weist der Gerichtshof erneut darauf hin, dass in Fällen, in denen es um eine mögliche Verantwortung staatlicher Beamter für Todesfälle geht, die infolge ihrer angeblichen Fahrlässigkeit eingetreten sind, die Verpflichtung nach Artikel 2, ein wirksames Rechtssystem einzurichten, nicht notwendigerweise in jedem Fall die Bereitstellung eines strafrechtlichen Rechtsbehelfs erfordert (vgl. u. a. Kotilainen u. a./Finnland, Slg. Finnland, Nr. 62439/12, § 91, 17. September 2020). Es kann jedoch außergewöhnliche Umstände geben, unter denen nur eine wirksame strafrechtliche Untersuchung in der Lage wäre, die positive Verfahrensverpflichtung nach Artikel 2 zu erfüllen. […]
Der Gerichtshof hat bereits oben festgestellt, dass die Untätigkeit der Strafverfolgungsbehörden eine der Ursachen für die Steigerung der häuslichen Gewalt zur Tötung des Opfers war. In Anbetracht der Tatsache, dass die Behörden wussten oder hätten wissen müssen, welch hohem Risiko das Opfer ausgesetzt war, wenn sie ihren polizeilichen Pflichten nicht nachkamen, ist der Gerichtshof der Auffassung, dass ihre Fahrlässigkeit über einen bloßen Ermessensfehler oder Nachlässigkeit hinausging. Die Staatsanwaltschaft hat jedoch die zahlreichen Strafanzeigen der Beschwerdeführerin ignoriert und keinen Versuch unternommen, die Identität der Polizeibeamten festzustellen, sie zu befragen und ihre Verantwortung in Bezug auf ihr Versäumnis, angemessen auf die zahlreichen Vorfälle geschlechtsspezifischer Gewalt zu reagieren, die der Tötung des Opfers vorausgingen, festzustellen. Darüber hinaus hat die Beschwerdeführerin, die eine Strafanzeige eingereicht hat, um die notwendige Untersuchung der Handlungen der Strafverfolgungsbehörden in diesem Fall zu erreichen, wiederholt versucht, Informationen von der Generalstaatsanwaltschaft zu erhalten, was jedoch nicht gelang. […]
Die Beschwerdeführerin verlangte […] 40.000 Euro als immateriellen Schaden wegen des Stresses und der Ängste, die sie durch den Verlust ihrer Tochter erlitten habe. […] [D]as Gericht [räumt] ein, dass die Beschwerdeführerin einen immateriellen Schaden erlitten haben muss, der nicht allein durch die Feststellung eines Verstoßes ausgeglichen werden kann. Es hält es für angemessen, der Beschwerdeführerin unter diesem Gesichtspunkt 35.000 Euro zuzusprechen. […]
Hinweis der Redaktion:
Siehe dazu: Heike Rabe: Häusliche Gewalt im Schutzbereich der Art. 3, Art. 8 und Art. 14 EMRK – Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, Eremia gegen Moldawien aus 2013, STREIT 4/2014, 181-184.
Bericht der Wiener Interventionsstelle gegen Gewalt gegen Frauen zum Urteil des EGMR im Fall Talpis versus Italy (EGMR 41237/14 vom 02.03.2017)