STREIT 3/2025
S. 111-114
„Natürlich ist noch eine Menge zu tun“ - Elisabeth Selbert, eine Kämpferin für die Gleichberechtigung und meine Großmutter
„Natürlich ist noch eine Menge zu tun“, schrieb Dr. Elisabeth Selbert im Jahre 1960 zum 11. Geburtstag des Grundgesetzes. Diesen Satz würde sie auch noch heute, mehr als 76 Jahre nach Verabschiedung des Grundgesetzes, unverändert stehen lassen. Denn zufrieden über das Erreichte in Sachen Gleichstellung war sie nie. Doch der Reihe nach …
Im Parlamentarischen Rat
Dem Mut und der Hartnäckigkeit von Elisabeth Selbert haben wir es zu verdanken, dass in Art.3 Abs. 2 GG die klare und unmissverständliche Formulierung „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ aufgenommen wurde. Das war nicht so geplant. Im Oktober des Vorjahres, in 1948, hatte der Parlamentarische Rat noch vor, die Gleichberechtigung angelehnt an die Formulierung der Weimarer Reichsverfassung in das Grundgesetz aufzunehmen. Danach sollten Männer und Frauen nur die gleichen staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten haben. Elisabeth Selbert intervenierte. Alle Rechtsgebiete müssen umfasst sein. Gerade das Zivilrecht mit dem Familien- und Erbrecht sowie das Arbeitsrecht. Am 30. November 1948 wird „ihre“ Formulierung in den Grundsatzausschuss eingebracht. Gleichzeitig wird aber auch ein Vorschlag der CDU vorgelegt, wonach das Gesetz Gleiches gleich und Verschiedenes nach seiner Eigenart behandeln muss. Dieser wenig eindeutigen Formulierung tritt sie entschieden entgegen und fordert die klare Formulierung „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“. Sie unterliegt bei der Abstimmung deutlich. Und sie unterliegt erneut im Hauptausschuss am 3. Dezember 1948 mit elf zu neun Stimmen. Man befürchtet ein Rechtschaos.
Nun sucht Elisabeth Selbert Verbündete. Sie schaltet die Öffentlichkeit ein, reist landauf und landab, hält Vorträge in Hamburg, München, Frankfurt und mobilisiert überparteiliche Frauenverbände, Gewerkschafterinnen und Politikerinnen aller Parteien. Sie wendet sich sogar an die Ehefrauen der CDU-Mitglieder des Parlamentarischen Rats. Die Medien helfen, auf die Diskussion aufmerksam zu machen. Mit ihrer ungewöhnlichen Strategie bewegt sie sich auf einem schmalen Grat. Üblicherweise werden inhaltliche Differenzen mit dem Fraktionsvorsitzenden im Vorfeld der Ausschussberatungen im kleinen Kreis geklärt. In der Regel wenden sich weder Fraktionen geschweige denn einzelne Abgeordnete an die Öffentlichkeit. Aber ihre Kampagne hat Erfolg – am 18.01.1949 nimmt der Hauptausschuss des Parlamentarischen Rates ihre Formulierung ohne Gegenstimmen an. Der Liberale und spätere Bundespräsident Theodor Heuss musste zuvor jedoch herablassend dementieren, „dass jetzt dieses Quasistürmlein uns irgendwie beeindruckt und uns zu einer Sinnwandlung veranlasst hat. Denn unser Sinn war von Anfang an so, wie sich die aufgeregten Leute draußen das gewünscht haben.“ Der CDU-Abgeordnete Walter Strauß, dessen Ehefrau unter den Zuhörerinnen saß, verstieg sich sogar zu der Äußerung, „ich glaube, dass ich für die überwiegende Anzahl aller deutschen Männer und insbesondere aller deutschen Ehemänner spreche, wenn ich sage, dass der Grundsatz der Gleichberechtigung von Mann und Frau uns zumindest seit 1918 bereits so in Fleisch und Blut übergegangen ist, dass uns die Debatte etwas überrascht hat.“
Ich werde als Enkelin oft gefragt, wie kam es, dass Elisabeth Selbert ihrer Zeit so weit voraus war und so hartnäckig und mutig agierte? Die nachfolgend skizzierten Erfahrungen und Lebensumstände waren sicherlich prägend für ihre klare Haltung.
Familie und Schulzeit
Elisabeth kommt am 22.09.1896 zur Welt. Sie stammt aus kleinbürgerlichen Verhältnissen. Ihr Vater, Georg Rohde, ist Justizwachtmeister, ihre Mutter Hausfrau. Sie ist die zweitälteste von vier Mädchen. Sowohl ihre Mutter als auch ihre Großmutter mütterlicherseits waren starke Persönlichkeiten. Es war ihnen anscheinend gelungen, die seinerzeit übliche patriarchalische Ehestruktur zu durchbrechen. Elisabeth beobachtet bereits als Kind genau die Beziehungen ihrer Eltern und Großeltern und bezeichnete sie rückblickend stets als partnerschaftlich. Die Eltern wünschen sich für ihre Töchter eine solide Ausbildung. Nach dem Besuch der Volksschule wechselt sie auf die Mittelschule. Da das Gehalt des Vaters nur ausreicht, das vom Staat erhobene Schulgeld für die ältere Schwester Maria zu entrichten, legt Elisabeth eine Prüfung ab, die den Vater von der Schulgeldzahlung befreit. Elisabeth besteht den Test ohne Schwierigkeiten. Das Lehrangebot orientiert sich jedoch an den Bedürfnissen und Fähigkeiten, die den Mädchen seinerzeit zugeschrieben wurden. Dies ist neben den Fremdsprachen vor allem Stenografie, Maschineschreiben und Handarbeiten. Ihr fehlen – so würden wir es heute sagen – die MINT-Fächer. Daher muss sie im Gegensatz zu den Jungen im Jahre 1912 die Mittelschule ohne ein Zeugnis über die Mittlere Reife verlassen. Sie erlebt damit erstmals das ganze Ausmaß diskriminierender Behandlung aufgrund ihres Geschlechts. Diese frühe Kränkung weckt ihr Interesse an Frauenfragen. Sie setzt sich intensiv mit Louise Otto-Peters und Helene Lange auseinander, den Kämpferinnen für höhere Mädchenbildung. Sie wird anschließend für ein Jahr die Kasseler Gewerbe- und Handelsschule des Frauenbildungsvereins besuchen. Elisabeth möchte in dieser Zeit am liebsten Lehrerin werden, aber die Familie Rohde hat nicht die finanziellen Mittel, den Besuch des Oberlyzeums zu bezahlen. Notgedrungen nimmt sie aufgrund ihrer guten Fremdsprachenkenntnisse eine Tätigkeit als Auslandskorrespondentin bei der Im- und Exportfirma Salzmann in Kassel an. In ihrer Freizeit liest sie viel. Erst vertieft sie sich in die Naturwissenschaften, dann interessiert sie die Philosophie. Sie beschäftigt sich u. a. mit Jean-Jacques Rousseau und Immanuel Kant. Und sie liebt das Theater.
Ihr Ehemann
Und dann lernt sie mit 22 Jahren Adam Selbert kennen, einen jungen Mann aus der Nachbarschaft. Der 1. Weltkrieg ist beendet, Kaiser Wilhelm II. hat abgedankt. Adam Selbert ist vom politischen Umbruch begeistert. Er wird Mitglied und später Vorsitzender des Arbeiter- und Soldatenrates in Niederzwehren. Damals ist Niederzwehren noch eine selbständige Vorortgemeinde von Kassel. Neben dem Engagement für die Politik beschäftigt auch er sich mit Philosophie und besitzt eine umfangreiche Bibliothek. Beide haben ein Theater-Abo für das Kasseler Staatstheater, wo sie sich kennenlernen. Später lädt Adam sie zu politischen Versammlungen der Sozialdemokraten ein. Sein erstes Geschenk für Elisabeth ist das Buch „Die Frau und der Sozialismus“ von August Bebel. Elisabeth ist fasziniert von seinem Bildungsstand. Und schon im Jahr 1920 redet nicht nur Adam Selbert auf einer öffentlichen Versammlung, sondern auch Elisabeth als Kandidatin zur Gemeindewahl vor 300 Frauen über das Thema Gleichberechtigung. Das junge Paar eint vor allem die Achtung voreinander und nicht stürmische Leidenschaft. „Ich brauchte einen Partner, der meine geistigen Interessen teilte“, erzählt sie später. Sie heiraten im Jahr 1920. Und sie schmieden Pläne, sich weiterzubilden. Adam, eigentlich gelernter Schriftsetzer, ist mittlerweile bereits Kommunalbeamter. Und er ermuntert seine Frau, das Abitur nachzuholen und zu studieren, da er aufgrund ihrer soliden Schulbildung die besseren Chancen des persönlichen Fortkommens sieht. Und das macht sie. Sie lernt über Jahre hinweg abends zuhause bis spät in die Nacht und legt das Abitur im Jahr 1926 als erste sog. Externe in Kassel ab. Zu diesem Zeitpunkt haben die Eheleute schon zwei kleine Söhne im Alter von 4 und 5 Jahren. Elisabeth ist jetzt 30 Jahre alt.
Die Studienjahre
Im Jahr 1926 beginnt sie auch gleich mit dem Studium der Rechtswissenschaft in Marburg. Ihrer Erinnerung nach gibt es dort zwei weitere weibliche Studierende. Später wechselt sie nach Göttingen. Dort trifft sie auf vier weitere Kommilitoninnen, die das Studium jedoch nicht beenden. Beide Eheleute sind der Überzeugung, „wer etwas leisten will, muss fundiertes Wissen bieten“. In ihren öffentlichen Funktionen merkt Elisabeth nämlich sehr schnell, dass sie ohne grundlegende Kenntnisse nicht gut zurechtkommt. Auch während dieser Zeit bewährt sich die Partnerschaft. Er ermuntert sie weiterhin zum Studium, bleibt Alleinernährer in wirtschaftlich schwierigen Zeiten, übernimmt die nicht unerheblichen Studiengebühren und verzichtet auf ein eigenes schnelles berufliches Fortkommen. Bei der Kinderbetreuung springen die Großeltern und eine unverheiratete Schwester von Elisabeth ein. Nach nur 6 Semestern, im Jahre 1929, legt sie das erste juristische Staatsexamen ab.
Anschließend, im Jahre 1930, promoviert sie. Ihre Dissertation trägt den Titel „Ehezerrüttung als Scheidungsgrund“. Auch hier ist sie ihrer Zeit schon weit voraus. Erst knapp 50 Jahre später, im Jahr 1977, wird „ihr“ Zerrüttungsprinzip in das Ehe- und Familienrecht eingeführt und das alte Verschuldensprinzip abgeschafft. Elisabeth nimmt dies noch mit Freude und Erleichterung zur Kenntnis, da ist sie schon über 80 Jahre alt.
Bei all dem zeigt sich, wie bedeutend der Einfluss ihres Elternhauses aber insbesondere die Unterstützung des Partners für den Lebensweg von Elisabeth Selbert war.
Manchmal braucht es auch weitere beherzte Unterstützer
Im Oktober 1934 meldet sich Elisabeth Selbert zum zum Assessorexamen an. Sie muss nach Berlin fahren, zum Reichsjustizprüfungsamt, denn mittlerweile sind nicht mehr die Landesjustizprüfungsämter zuständig. Die Prüfungskommission in Berlin ist nun auch nach dem „Führerprinzip“ umstrukturiert worden. Der Vorsitzende allein entscheidet über die Prüfungsleistung. Den übrigen Mitgliedern bleibt nur eine beratende Funktion, sie sind nicht mehr abstimmungsbefugt. Das Geld für die Bahnfahrt muss sich Elisabeth leihen. Nach dem Termin sendet sie ein Telegramm an ihren Mann Adam: „Befriedigend bestanden – Ankomme 3.26 Nachts – Elisabeth“.
Mittlerweile wird bekannt, dass die Nationalsozialisten den Zugang für Frauen in die Justiz verhindern wollen. Alle jahrelangen Mühen wären dann umsonst gewesen. Daher beantragt Elisabeth Selbert unmittelbar nach ihrer Prüfung die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft. Sie hat großes Glück. Der nationalsozialistische Oberlandesgerichtspräsident ist auf Dienstreise. Zwei ältere Senatsrichter des Oberlandesgerichts vertreten ihn und händigen ihr die Zulassung am 15.12.1934 aus – entgegen dem Votum der Rechtsanwaltskammer, des NS-Juristenbundes, des Gauleiters und entgegen dem Willen des Präsidenten. Beide Richter kannten Elisabeth Selbert und schätzten ihre Fähigkeiten. Für diesen mutigen Akt und die Beherztheit der beiden Männer war sie zeitlebens dankbar. Denn nun konnte ihre Zulassung nur noch im Wege eines Ehrengerichtsverfahrens aberkannt werden, aber dazu gab es keinen Anlass. Tatsächlich wird ab dem 1.1.1935, zwei Wochen später, keine Frau mehr zur Rechtsanwaltschaft oder als Richterin bzw. Staatsanwältin zugelassen. Schwer erkämpfte Errungenschaften aus der Weimarer Zeit wurden zunichte gemacht.
Ging ihr denn nie die Kraft aus?
Man könnte meinen, ihre Kraft sei unerschöpflich gewesen. Neben der Familie mit zwei kleinen Kindern sich auf das Abitur vorzubereiten, zu studieren, jeden Tag mit der Bahn nach Marburg oder Göttingen zu fahren, das Referendariat zu absolvieren. Aber die Kraft war nicht unerschöpflich. Insbesondere nicht zu der Zeit, als Adam Selbert, der mittlerweile stellvertretender Bürgermeister von Niederzwehren geworden war, von den Nazis als politischer Mandatsträger in das Konzentrationslager Breitenau vor den Toren Kassels verschleppt wurde. Das war am 29. Juni 1933. Er muss in der „Schutzhaft“ Zwangsarbeit leisten. Nach vier Wochen kommt er zwar schwer traumatisiert frei, wird aber aufgrund des § 4 des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7.4.1933 vorzeitig in den Ruhestand versetzt. Adam steht die nächsten 12 Jahre unter Aufsicht der Gestapo, er muss sich regelmäßig melden. Mit einer monatlichen Nettopension von 88,– bis 102,– Reichsmark ist keine Familie zu ernähren.
Elisabeth ist zu dieser Zeit im Referendariat. Die Großeltern müssen finanziell immer wieder unter die Arme greifen. Und die Kraft von Elisabeth ist aufgezehrt, sie braucht während des Referendariats eine 6-monatige Pause. Sie selbst redet – wie es seinerzeit üblich war – von einem Nervenzusammenbruch. Heute würden wir es als Burn-Out bezeichnen. Als Anwältin und Notarin ernährt sie die Familie ab Ende 1934 allein. Und das Arbeiten unter den Nationalsozialisten ist eine stetige Gratwanderung. Es gibt konspirative Treffen, getarnt als sonntägliche Wanderungen durch den Reinhardswald oder zum Schloss Wilhelmshöhe. Man informiert sich untereinander, bespricht Hilfsmöglichkeiten für die Familien verhafteter Genossen, manchmal wird gleich an Ort und Stelle Geld gesammelt und man tauscht „regimefeindliches Material“ aus. Mit gleichgesinnten Richtern und Staatsanwälten wirkt man zusammen, um die Verhaftung des Mandanten vor dem Gerichtssaal durch die Gestapo zu verhindern.
Auch später, nach dem Krieg, arbeitet sie bis zur Erschöpfung. Sie hat ihre Rechtsanwaltskanzlei zu führen, ist bereits ein Bindeglied zur amerikanischen Militärregierung, wird Stadtverordnete in Kassel und ab Sommer 1946 Mitglied der Verfassungsberatenden Landesversammlung Hessens. Sie wirkt in drei Ausschüssen maßgeblich an der Hessischen Verfassung mit – als einzige Frau – und ist häufiger in Wiesbaden als zuhause anzutreffen. Besonders intensiv arbeitet sie zu so unterschiedlichen Themen wie der Reichseinheit, dem Versammlungsrecht, der sozialistischen Wirtschaftsordnung, dem Staatsnotstand, der Freiheit der Person und dem Sinn von Strafe. Ferner wird sie Landtagsabgeordnete von 1946 bis 1958 und ab 1946 Mitglied im Bundesvorstand ihrer Partei für 10 Jahre. Schließlich wird sie im Jahre 1948 als Abgeordnete in den Parlamentarischen Rat berufen – als eine von vier Frauen. Jetzt ist sie überwiegend in Bonn. An Urlaub ist in dieser Zeit natürlich nicht zu denken. Es wird überall am Aufbau des Staates mitgewirkt. In ihren Kanzleiräumen wird die Arbeiterwohlfahrt wieder gegründet. Diese Vielzahl von Aufgaben führt erneut zur Erschöpfung. Sie braucht eine weitere Auszeit von ein paar Wochen.
Im Alter
Bis zu ihrem 85. Lebensjahr arbeitet Elisabeth Selbert noch in ihrer Kanzlei. Und sie genießt Urlaube und Reisen, die ihr in jüngeren Jahren nicht möglich waren. Begleitet wird sie von Großnichte Anneliese, die seit 1962 im Haushalt der Selberts lebt und bis zum Tode von Elisabeth bei ihr bleiben wird. Sie hat nicht nur die Organisation im Hause Selbert übernommen, sie wird eine gute Freundin. Mit ihr fährt Elisabeth nach Terschelling ans Meer, in die Berge nach Bad Mitterndorf in die Wohnung ihres „3. Sohnes“ und in ein kleines Ferienhaus am Lago Maggiore. Dort besucht sie die inzwischen im Tessin lebende ehemalige hessische CDU-Landtagsabgeordnete Gabriele Strecker, mit der sie erst im Alter freundschaftlich verbunden ist.
Und ihre Liebe zu Blumen und blühenden Sträuchern bringt Anneliese manchmal an den Rand der Verzweiflung. So liegt im Auto hinter dem Fahrersitz, auch im Urlaub, immer eine Schippe und ein Beutel – stets bereit zur Aufnahme besonders hübscher Exemplare. Nicht selten muss Anneliese die Juristin ermahnen, sie würde nochmal angezeigt werden, hier sei doch wohl eher Privatgrund. Elisabeth hat das rechtlich immer anders eingeschätzt. Leider haben die heimischen Temperaturen die eine oder andere prächtige Kamelie doch nicht so gedeihen lassen wie im Tessin, was meine Großmutter nur mit der Bemerkung kommentierte, „ein Versuch war‘s wert“.
Sie stirbt am 9. Juni 1986 in ihrer Heimatstadt Kassel mit fast 90 Jahren. Da ist ihr Mann schon 21 Jahre tot. Adam war die letzten Jahre stellvertretender Landeshauptmann und Personaldezernent des Bezirkskommunalverbandes Hessen, dem Vorläufer des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen. Auch er bekleidete viele Ehrenämter. An ihn habe ich keine Erinnerung mehr.
Aber an Elisabeth. Ich war 26 Jahre alt, als sie starb, und ich hatte bereits mein Jura-Studium abgeschlossen. Die Todesnachricht ereilte mich während meines Referendariats, als ich im Rahmen einer Wahlstation in Jerusalem bei einem Anwalt tätig war. Wir standen bis zu ihrem Tod im engen Kontakt. Wenn ich gefragt werde, „wie war denn deine Großmutter so?“, dann sind es viele Facetten, die mir einfallen. Neben ihrer Klugheit, ihrer Scharfsinnigkeit, ihrer Sachlichkeit in politischen Diskussionen, ihrer Präzision in beruflichen Belangen, ihrer Toleranz, ist es vor allem aber ihre Hilfsbereitschaft und Großherzigkeit, die mir in Erinnerung bleibt. Wenn es nötig war, stellte sie sogar ihr Zuhause mit völliger Selbstverständlichkeit zur Verfügung. Als ein guter Freund und Schulkamerad meines Vaters aus dem Krieg nach Hause kam, fand er sein Elternhaus völlig zerstört vor. Die Eltern waren beide in der großen Bombennacht vom 22. Oktober 1943 in Kassel ums Leben gekommen. Nähere Angehörige gab es nicht mehr. Meine Großmutter entschied ohne Zögern, „der Herbert bleibt bei uns“. Er wurde de facto der 3. Sohn im Hause Selbert. Auch Enkelkinder fanden später bei ihr ein Zuhause auf Zeit. Und allen sechs Enkelkindern finanzierte sie deren Ausbildung oder ein Studium. Insbesondere die fünf Enkeltöchter sollten nie auf das Gehalt eines Ehemannes oder Partners angewiesen sein. Diese Hilfsbereitschaft und Großherzigkeit hatte sie selbst als junge Frau in ihrer Familie erfahren dürfen.
Und natürlich hat sie mir und allen in unserer Familie „etwas mitgegeben“. Wie ich finde, etwas sehr Bedeutsames, nämlich für unsere demokratischen Grundwerte einzustehen, sich für soziale Gerechtigkeit zu engagieren und mutig zu sein. Und ich bin ihr dankbar, dass sie die grundgesetzlich verankerte Basis geschaffen hat für alle Forderungen nach Gleichberechtigung.
Aber sie haderte bis zuletzt mit dem Umstand, dass die Gleichberechtigung vorankommt „wie eine Schnecke auf Glatteis“ und gab uns Frauen noch im hohen Alter mit auf den Weg, „sich stärker politisch zu organisieren und zu engagieren, um die Gleichberechtigung in steigendem und in erforderlichem Maße durchzusetzen. Wir können dies nicht von den Männern erwarten – das ist Frauensache“. Die mangelnde Beteiligung von Frauen an der politischen Willensbildung in den Parlamenten bezeichnete sie als „Verfassungsbruch in Permanenz“. Die 32,4 Prozent Frauenanteil im jetzigen Bundestag hätte sie erschüttert, genauso wie die steigende Gewalt gegenüber Frauen und Mädchen. Aber auch die fortwährende Lohnlücke, insbesondere unter Berücksichtigung des Lebensarbeitseinkommens, die nach wie vor nichtpartnerschaftliche Aufteilung der Familienarbeit und alle Versuche der Retraditionalisierung von Geschlechterrollen hätte sie bekämpft.
„Natürlich ist noch eine Menge zu tun“, würde sie also auch noch heute schreiben, 76 Jahre nach Verabschiedung des Artikels 3 Absatz 2 des Grundgesetzes. Es ist immer noch ein langer Weg. Bleiben wir also weiterhin hartnäckig und mutig. Wir sind es uns, unseren Kindern und unseren Vorkämpferinnen schuldig.