STREIT 3/2025

S. 115-118

EuGH, RiLi 92/85/EWG, §§ 4, 5 KSchG

Unwirksamkeit der Zweiwochenfrist für die nachträgliche Klagezulassung bei Unkenntnis einer Schwangerschaft im Zeitpunkt der Kündigung

Tenor
Art. 10 und 12 der Richtlinie 92/85/EWG des Rates vom 19. Oktober 1992 über die Durchführung von Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes von schwangeren Arbeitnehmerinnen, Wöchnerinnen und stillenden Arbeitnehmerinnen am Arbeitsplatz (zehnte Einzelrichtlinie im Sinne des Artikels 16 Absatz 1 der Richtlinie 89/391/EWG) sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, nach der eine schwangere Arbeitnehmerin, die von ihrer Schwangerschaft erst nach Ablauf der für die Erhebung einer Klage gegen ihre Kündigung vorgesehenen Frist Kenntnis erlangt hat, eine solche Klage nur dann erheben kann, wenn sie binnen zweier Wochen einen Antrag auf Zulassung der verspäteten Klage stellt, sofern die Verfahrensmodalitäten im Zusammenhang mit diesem Zulassungsantrag insoweit nicht den Anforderungen des Effektivitätsgrundsatzes genügen, als sie Nachteile mit sich bringen, die geeignet sind, die Umsetzung der Rechte übermäßig zu erschweren, die Art. 10 dieser Richtlinie schwangeren Arbeitnehmerinnen vermittelt.
Urteil des EuGH vom 27.06.2024, RS C-284/23 (Vorabentscheidung zur Vorlage des Arbeitsgerichts Mainz vom 24.04.2023, 4 Ca 1424/22)

Aus den Gründen:
Ausgangsverfahren und Vorlagefrage
[10-15] TC war aufgrund eines auf ein Jahr befristeten Arbeitsvertrags ab dem 1. August 2022 bei H. als Pflegehelferin beschäftigt. Mit Schreiben vom 6. Oktober 2022 kündigte H. der TC mit Wirkung zum 21. Oktober 2022. Am 9. November 2022 wurde bei TC eine Schwangerschaft in der siebten Woche ärztlich festgestellt. Hiervon unterrichtete sie H. am 10. November 2022.
Mit Schreiben vom 13. Dezember 2022 reichte TC beim Arbeitsgericht Mainz, dem vorlegenden Gericht, Klage gegen ihre Kündigung mit der Begründung ein, dass sie zum Zeitpunkt der Kündigung schwanger gewesen sei.
Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts § 4 Satz 4 KSchG – der vorsieht, dass, soweit die Kündigung der Zustimmung einer Behörde bedarf, die Frist zur Anrufung des Arbeitsgerichts erst mit Bekanntgabe der Entscheidung der Behörde an den Arbeitnehmer zu laufen beginnt – im Fall nachträglich dem Arbeitgeber mitgeteilter Schwangerschaft nicht anwendbar sei, so dass das Versäumen der Dreiwochenfrist des § 4 Satz 1 KSchG gemäß § 7 KSchG trotz des Sonderkündigungsschutzes nach § 17 MuSchG zur Wirksamkeit der Kündigung führe, sofern nicht ein Antrag auf Zulassung der verspäteten Klage nach § 5 KSchG gestellt werde. Da TC einen derartigen Antrag nicht gestellt habe, sei ihre Klage mithin nach diesen Bestimmungen des KSchG abzuweisen. Das vorlegende Gericht hat jedoch Zweifel an deren Vereinbarkeit mit dem Unionsrecht […].
[18] Unter diesen Umständen hat das Arbeitsgericht Mainz beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabent­scheidung vorzulegen:
Sind die nationalen deutschen Regelungen der §§ 4 und 5 KSchG, wonach auch eine Frau, die als Schwangere besonderen Kündigungsschutz genießt, zur Erhaltung desselben zwingend innerhalb der dort normierten Fristen Klage erheben muss, mit der Richtlinie 92/85 vereinbar? […]

Zur Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens
[27] Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Art. 10 und 12 der Richtlinie 92/85 dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, nach der eine schwangere Arbeitnehmerin, die von ihrer Schwangerschaft erst nach Ablauf der für die Erhebung einer Klage gegen ihre Kündigung vorgesehenen Frist Kenntnis erlangt hat, eine solche Klage nur dann erheben kann, wenn sie binnen zweier Wochen einen Antrag auf Zulassung der verspäteten Klage stellt. […]
[30] Diese Vorschriften und insbesondere Art. 12 der Richtlinie 92/85 sind im Kontext der Richtlinie spezifischer Ausdruck des Grundsatzes des effektiven gerichtlichen Schutzes der den Einzelnen durch das Unionsrecht verliehenen Rechte (Urteil Pontin, Rn. 41). […]
[32] Was den Grundsatz des effektiven gerichtlichen Schutzes der den Einzelnen durch das Unionsrecht verliehenen Rechte betrifft, dürfen nach ständiger Rechtsprechung die Verfahrensmodalitäten für Klagen, die den Schutz der den Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollen, nicht weniger günstig ausgestaltet sein als die für entsprechende innerstaatliche Klagen (Grundsatz der Äquivalenz) und die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Grundsatz der Effektivität) (Urteil Pontin, Rn. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung). […]

[34] Zum Effektivitätsgrundsatz ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass jeder Fall, in dem sich die Frage stellt, ob eine nationale Verfahrensvorschrift die Anwendung des Unionsrechts unmöglich macht oder übermäßig erschwert, unter Berücksichtigung der Stellung dieser Vorschrift im gesamten Verfahren, des Verfahrensablaufs und der Besonderheiten des Verfahrens vor den verschiedenen nationalen Stellen zu prüfen ist. […]
[35] In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof dementsprechend entschieden, dass die Festsetzung angemessener Ausschlussfristen für die Rechtsverfolgung im Interesse der Rechtssicherheit mit dem Unionsrecht vereinbar ist, da solche Fristen nicht geeignet sind, die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte praktisch unmöglich zu machen oder übermäßig zu erschweren (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. Februar 2008, Kempter, C‑2/06, EU:C:2008:78, Rn. 58 und die dort angeführte Rechtsprechung). Der Gerichtshof hat zu Ausschlussfristen auch entschieden, dass es Sache der Mitgliedstaaten ist, für nationale Regelungen, die in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fallen, Fristen festzulegen, die insbesondere der Bedeutung der zu treffenden Entscheidungen für die Betroffenen, der Komplexität der Verfahren und der anzuwendenden Rechtsvorschriften, der Zahl der potenziell Betroffenen und den anderen zu berücksichtigenden öffentlichen oder privaten Belangen entsprechen (vgl. in diesem Sinne Urteil Pontin, Rn. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung, und Urteil vom 27. Februar 2020, Land Sachsen-Anhalt [Besoldung der Beamten und Richter], C‑773/18 bis C‑775/18, EU:C:2020:125, Rn. 69).
[36] Somit stehen insbesondere im Hinblick auf den Grundsatz der Rechtssicherheit die Anforderungen des Effektivitätsgrundsatzes bei einer Klage auf Wiedereinstellung einer rechtswidrig gekündigten Arbeitnehmerin in das betreffende Unternehmen der Festlegung einer relativ kurzen Ausschlussfrist grundsätzlich nicht entgegen. Denn sowohl die schwangeren Arbeitnehmerinnen, denen gekündigt worden ist, als auch die Arbeitgeber können aus Gründen der Rechtssicherheit ein Interesse daran haben, dass eine solche Klagemöglichkeit zeitlich beschränkt ist, insbesondere wegen der Folgen dieser Wiedereinstellung für alle Beteiligten, wenn diese erst nach erheblicher Zeit erfolgt (vgl. in diesem Sinne Urteil Pontin, Rn. 60 und 61).

[37] Allerdings hat der Gerichtshof zu einer nationalen Regelung, die für eine Klage auf Nichtigerklärung einer Kündigung eine Ausschlussfrist von 15 Tagen vorsieht, zum einen entschieden, dass in Anbetracht insbesondere der Situation, in der sich eine Frau zu Beginn der Schwangerschaft befindet, eine solche Frist als besonders kurz anzusehen ist, und zum anderen, dass es für eine Arbeitnehmerin, der während ihrer Schwangerschaft gekündigt worden ist, sehr schwierig ist, sich unter Einhaltung dieser Frist sachgerecht beraten zu lassen sowie gegebenenfalls eine Klage abzufassen und einzureichen (Urteil Pontin, Rn. 62 und 65).
[38] Der Gerichtshof hat ferner im Hinblick auf die nationale Regelung, die Gegenstand der Rechtssache war, in der das Urteil Pontin ergangen ist, darauf hingewiesen, dass eine schwangere Arbeitnehmerin, die, aus welchem Grund auch immer, diese Fünfzehntagesfrist hat verstreichen lassen, ihre aus der Kündigung resultierenden Rechte nicht mehr mit einer Klage geltend machen kann (vgl. in diesem Sinne Urteil Pontin, Rn. 66).
[39] Insbesondere auf der Grundlage dieser Feststellungen hat der Gerichtshof entschieden, dass Verfahrensmodalitäten wie diejenigen, die diese nationale Regelung kennzeichnen, dadurch, dass sie Verfahrensnachteile mit sich bringen, die es schwangeren Frauen übermäßig erschweren können, ihre Rechte aus Art. 10 der Richtlinie 92/85 durchzusetzen, den Erfordernissen in Bezug auf den Grundsatz der Effektivität nicht genügen, wobei die entsprechende Prüfung jedoch vom vorlegenden Gericht vorzunehmen ist (vgl. in diesem Sinne Urteil Pontin, Rn. 67 und 69).
[40] Im vorliegenden Fall geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass nach § 4 Satz 1 KSchG eine Kündigungsschutzklage innerhalb von drei Wochen nach Zugang der schriftlichen Kündigung zu erheben ist. Eine nach Ablauf dieser Frist erhobene Klage einer schwangeren Arbeitnehmerin kann jedoch nach § 5 KSchG zulässig sein, wenn die Arbeitnehmerin, die erst nach Ablauf der genannten Dreiwochenfrist von ihrer Schwangerschaft Kenntnis erlangt hat, einen entsprechenden Antrag stellt. Dieser Antrag muss innerhalb von zwei Wochen nach Behebung des Hindernisses für die Klageerhebung gestellt werden.
[41] Das vorlegende Gericht stellt fest, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Arbeitnehmerin, die innerhalb von drei Wochen nach Zugang der schriftlichen Kündigung keine Klage gegen ihre Kündigung erhoben habe, auch keinen derartigen Antrag gestellt habe, so dass ihre Klage abzuweisen wäre, es sei denn – wozu es neige –, die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung verstoße gegen den Effektivitätsgrundsatz.
[42] Die dreiwöchige Klagefrist des § 4 Satz 1 KSchG solle die Rechtssicherheit gewährleisten, und dies scheine auch für die in § 5 Abs. 3 KSchG vorgesehene Frist von zwei Wochen für die Einreichung eines Antrags auf Zulassung der verspäteten Klage zu gelten.

[43] Allerdings dürfen die Mitgliedstaaten, wie in Rn. 35 des vorliegenden Urteils ausgeführt, bei der Festsetzung der Ausschlussfristen nicht nur die Rechtssicherheit heranziehen. Andere Parameter, wie die Bedeutung der zu treffenden Entscheidungen für die Betroffenen oder auch andere öffentliche oder private Belange, sind ebenfalls zu berücksichtigen.
[44] In diesem Zusammenhang stellt der Kündigungsschutz für schwangere Arbeitnehmerinnen, wie er durch Art. 10 der Richtlinie 92/85 gewährleistet wird, einen wichtigen Parameter dar, den die Mitgliedstaaten berücksichtigen müssen.
[45] In Anbetracht der Gefahr, die eine mögliche Kündigung für die physische und psychische Verfassung einer schwangeren Arbeitnehmerin darstellt, hat der Unionsgesetzgeber in Art. 10 der Richtlinie 92/85 nämlich einen besonderen Schutz für die Frau vorgesehen, indem er dieses Kündigungsverbot verfügt hat (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Februar 2018, Porras Guisado, C‑103/16, EU:C:2018:99, Rn. 46 und die dort angeführte Rechtsprechung).
[46] Zwar geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass § 5 KSchG die Erhebung einer verspäteten Klage mittels eines Zulassungsantrags ermöglicht, wenn die ordentliche Frist von drei Wochen für die Erhebung einer Kündigungsschutzklage verstrichen ist, die Frau aber aus einem von ihr nicht zu vertretenden Grund noch keine Kenntnis von ihrer Schwangerschaft erlangt hatte.
[47] Erstens ist jedoch darauf hinzuweisen, dass dieser Antrag auf Zulassung der verspäteten Klage innerhalb von zwei Wochen nach Behebung des Hindernisses für die Klageerhebung zu stellen ist, was nach Auffassung des Gerichtshofs in Anbetracht insbesondere der Situation, in der sich eine Frau zu Beginn der Schwangerschaft befindet, eine besonders kurze Frist darstellt (Urteil Pontin, Rn. 62).
[48] Zweitens ist diese zweiwöchige Frist kürzer als die in § 4 Satz 1 KSchG vorgesehene ordentliche Frist von drei Wochen für die Erhebung einer Kündigungsschutzklage.
[49] Somit verfügt eine schwangere Arbeitnehmerin, die zum Zeitpunkt ihrer Kündigung Kenntnis von ihrer Schwangerschaft hat, über eine Frist von drei Wochen, um eine solche Klage zu erheben. Dagegen verfügt eine Arbeitnehmerin, die aus einem von ihr nicht zu vertretenden Grund vor Ablauf dieser Frist keine Kenntnis von ihrer Schwangerschaft hat, nur über zwei Wochen, um die Zulassung einer solchen Klage zu beantragen, was eine erhebliche Verkürzung der Frist bedeutet, um sich sachgerecht beraten zu lassen und gegebenenfalls nicht nur diesen Antrag auf Zulassung der verspäteten Klage, sondern auch die eigentliche Klage abzufassen und einzureichen. […]
[51] […] Das bedeutet, dass ihr eine kürzere Frist zu Gebote steht als diejenige, die ihr zur Verfügung gestanden hätte, wenn sie zum Zeitpunkt ihrer Kündigung von ihrer Schwangerschaft Kenntnis gehabt hätte. Somit kann diese Frist von zwei Wochen dazu führen, dass es für diese Arbeitnehmerin sehr schwierig wird, sich sachgerecht beraten zu lassen und gegebenenfalls den Zulassungsantrag und die eigentliche Klage abzufassen und einzureichen.
[52] Drittens scheint, wie auch die Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen ausführt, der Beginn der in § 5 Abs. 3 KSchG vorgesehenen Frist von zwei Wochen, d. h. der Zeitpunkt der „Behebung des Hindernisses“ für die Klageerhebung, nicht völlig eindeutig zu sein, was dazu beitragen kann, die Wahrnehmung der durch die Richtlinie 92/85 gewährleisteten Rechte zu erschweren.

[53] Viertens schließlich geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass die gekündigte Arbeitnehmerin nach § 17 Abs. 1 Satz 2 MuSchG verpflichtet ist, ihrem Arbeitgeber unverzüglich ihre Schwangerschaft mitzuteilen. In Anbetracht dieser Verpflichtung fragt sich das vorlegende Gericht, ob das zusätzliche Erfordernis, wonach diese Arbeitnehmerin bei einem Gericht einen Antrag auf Zulassung der verspäteten Klage stellen muss, als mit den Anforderungen des Prinzips effektiven Rechtsschutzes unvereinbar anzusehen ist.
[54] Hierzu ist festzustellen, dass zwar der Umstand, dass die Arbeitnehmerin nicht nur verpflichtet ist, ihrem Arbeitgeber unverzüglich ihre Schwangerschaft mitzuteilen, sondern dass es ihr auch obliegt, innerhalb von zwei Wochen einen Antrag auf Zulassung der verspäteten Klage bei einem Gericht zu stellen sowie grundsätzlich die eigentliche Klage einzureichen, dazu beiträgt, aufzuzeigen, wie komplex das durch die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung geschaffene System ist: Dieses sieht mehrere konkurrierende Pflichten vor, die unter Einhaltung unterschiedlicher, sich überschneidender Fristen teils gegenüber dem Arbeitgeber, teils gegenüber einem Gericht zu erfüllen sind.
[55] Es kann indessen grundsätzlich nicht davon ausgegangen werden, dass eine schlichte Mitteilung an den Arbeitgeber der Einreichung eines Schriftsatzes bei Gericht gleichwertig wäre, der nach den nationalen Verfahrensvorschriften erforderlich ist, um eine Kündigung anzufechten oder zumindest die Ausschlussfrist für die Anfechtung dieser Kündigung auszusetzen.
[56] Daraus folgt, dass das Erfordernis, einen Antrag auf Zulassung der verspäteten Klage bei einem Gericht stellen zu müssen, als solches nicht als mit den Anforderungen des Grundsatzes des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes unvereinbar angesehen werden kann, und zwar auch dann nicht, wenn die nationale Regelung außerdem die betroffene Arbeitnehmerin dazu verpflichtet, ihrem Arbeitgeber unverzüglich ihre Schwangerschaft mitzuteilen. […]

[58] Im vorliegenden Fall ist festzustellen, dass die in § 5 KSchG vorgesehene Frist von zwei Wochen vorbehaltlich der vom vorlegenden Gericht vorzunehmenden Prüfungen zu Verfahrensnachteilen zu führen scheint, die gegen den Grundsatz der Effektivität und damit gegen den Grundsatz des effektiven gerichtlichen Schutzes der den Einzelnen durch die Richtlinie 92/85 verliehenen Rechte verstoßen können. Diese Frist, die deutlich kürzer ist als die in § 4 KSchG vorgesehene ordentliche Frist, scheint nämlich in Anbetracht der Situation, in der sich eine Frau zu Beginn ihrer Schwangerschaft befindet, besonders kurz zu sein und es der schwangeren Arbeitnehmerin sehr schwierig zu machen, sich sachgerecht beraten zu lassen und gegebenenfalls einen Antrag auf Zulassung der verspäteten Klage sowie die eigentliche Klage abzufassen und einzureichen, zumal Unsicherheiten hinsichtlich des Beginns dieser Zweiwochenfrist und der Kumulierung von Pflichten nicht auszuschließen sind, für die jeweils unterschiedliche Fristen gelten und die teils gegenüber dem Arbeitgeber, teils gegenüber einem Gericht zu erfüllen sind.
[59] Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass die Art. 10 und 12 der Richtlinie 92/85 dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, nach der eine schwangere Arbeitnehmerin, die von ihrer Schwangerschaft erst nach Ablauf der für die Erhebung einer Klage gegen ihre Kündigung vorgesehenen Frist Kenntnis erlangt hat, eine solche Klage nur dann erheben kann, wenn sie binnen zweier Wochen einen Antrag auf Zulassung der verspäteten Klage stellt, sofern die Verfahrensmodalitäten im Zusammenhang mit diesem Zulassungsantrag insoweit nicht den Anforderungen des Effektivitätsgrundsatzes genügen, als sie Nachteile mit sich bringen, die geeignet sind, die Umsetzung der Rechte übermäßig zu erschweren, die Art. 10 dieser Richtlinie schwangeren Arbeitnehmerinnen vermittelt.

Hinweis

Der Arbeitgeber kündigte das Arbeitsverhältnis während der Probezeit mit Schreiben vom 06.10.2022. 6 Wochen später, nämlich am 09.11.2022 wurde bei der Arbeitnehmerin eine Schwangerschaft in der siebten Woche ärztlich festgestellt. Am Folgetag, 10.11.2022, informierte sie den Arbeitgeber und erhob erst ca. einen Monat später, nämlich am 13.12.2022 Kündigungsschutzklage und berief sich auf das Kündigungsverbot während Schwangerschaft gemäß § 17 Abs. 1 MuSchG.
Das Problem: Gemäß § 7 KSchG gilt die Kündigung als von Anfang an rechtswirksam, wenn ihre Rechtsunwirksamkeit nicht rechtzeitig geltend gemacht wird, d. h. insbesondere, wenn nicht innerhalb der Fristen gemäß § 4 Satz 1, § 5 KSchG Klage erhoben wird.
Im Streitfall war im Zeitpunkt der Klageerhebung die 3-wöchige Klagefrist des § 4 KSchG abgelaufen. Einen Antrag auf nachträgliche Klagezulassung gemäß § 5 KSchG hat die Klägerin nicht gestellt und ein solcher Antrag wäre am 13.12.2022 auch verfristet gewesen, weil nach den Regelungen der §§ 4, 5 KSchG in der Auslegung, die diese Vorschriften in der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts erfahren haben, der Antrag auf nachträgliche Klagezulassung (verbunden mit der Klage) binnen zweier Wochen nach Kenntnis von der Schwangerschaft hätte gerichtlich geltend gemacht werden müssen.
Das Arbeitsgericht Mainz hatte dem Europäischen Gerichtshof die Frage vorgelegt, ob dieses strenge Fristenregime mit der Richtlinie 92/85/EWG des Rates vom 19. Oktober 1992 (sog. Mutterschutzrichtlinie) vereinbar ist. Der EuGH hat wie vorliegend abgedruckt entschieden, dass das in Fallgestaltungen wie der vorliegenden, also wenn die gekündigte Arbeitnehmerin erst nach Ablauf der 3-wöchigen Klagefrist Kenntnis davon hat, dass sie im Zeitpunkt des Ausspruchs der Kündigung schwanger war, nicht der Fall ist.
In der Folge hatte die Klägerin keine Klagefrist einzuhalten, weshalb ihrer Klage trotz der späten Erhebung stattzugeben war. (siehe Pressemitteilung des Arbeitsgerichts Mainz zum Verfahren 4 Ca 1424/22 vom 10.09.2024; https://arbgmz.justiz.rlp.de/presse-aktuelles/detail/pressemitteilung-zum-verfahren-4-ca-1424-22-eugh-c-284-23).
RAin Susette Jörk, Leipzig