STREIT 3/2025
S. 119-120
BVerfG, Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG, §§ 765a ZPO, § 32 Abs. 1 BVerfGG
Räumungsschutz für Hochschwangere
Die Vollstreckungsgerichte haben in ihrer Verfahrensgestaltung die erforderlichen Vorkehrungen zu treffen, damit Verfassungsverletzungen durch Zwangsvollstreckungsmaßnahmen ausgeschlossen werden und dadurch der sich aus dem Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit ergebenden Schutzpflicht staatlicher Organe Genüge getan wird. (Rnr. 6)
(Leitsatz der Redaktion)
Beschluss des BVerfG, 2. Senat, 3. Kammer vom 18.05.2025 – 2 BvQ 32/25
Tenor
Das BVerfG hat beschlossen: „Die Zwangsvollstreckung aus dem Vergleich des Amtsgerichts … vom 18. Januar 2024 wird einstweilen bis zur Entscheidung über die noch einzulegende Verfassungsbeschwerde, längstens für die Dauer von sechs Monaten, ausgesetzt“.
Aus den Gründen:
(3) 2. Nach diesen Maßstäben hat der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung Erfolg.
(4) a) Eine noch einzulegende Verfassungsbeschwerde wäre weder von vornherein unzulässig noch offensichtlich unbegründet.
(5) Die Sachaufklärung und Begründung der angegriffenen Entscheidungen des Amtsgerichts begegnen im Hinblick auf das von den Antragstellern geltend gemachte Grundrecht des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG (körperliche Unversehrtheit) verfassungsrechtlichen Bedenken.
(6) aa) Die Vollstreckungsgerichte haben in ihrer Verfahrensgestaltung die erforderlichen Vorkehrungen zu treffen, damit Verfassungsverletzungen durch Zwangsvollstreckungsmaßnahmen ausgeschlossen werden und dadurch der sich aus dem Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit ergebenden Schutzpflicht staatlicher Organe Genüge getan wird (vgl. BVerfGE 52, 214 <219 f.>). Es ist Aufgabe der staatlichen Organe, Grundrechtsverletzungen nach Möglichkeit auszuschließen (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des 2. Senats v. 29.06.2022 – 2 BvR 447/22, Rn. 39 m. w. N.). Macht der Vollstreckungsschuldner für den Fall einer Zwangsräumung substantiiert ihm drohende schwerwiegende Gesundheitsgefahren geltend, haben sich die Tatsacheninstanzen – beim Fehlen eigener Sachkunde – zur Achtung verfassungsrechtlich verbürgter Rechtspositionen wie in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG regelmäßig mittels sachverständiger Hilfe ein genaues und nicht nur an der Oberfläche haftendes Bild davon zu verschaffen, welche gesundheitlichen Folgen im Einzelnen mit einem Umzug verbunden sind, insbesondere welchen Schweregrad zu erwartende Gesundheitsbeeinträchtigungen voraussichtlich erreichen werden und mit welcher Wahrscheinlichkeit dies eintreten kann (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des 2. Senats v. 29.06.2022 – 2 BvR 447/22, Rn. 40 m. w. N.). […]
(7) bb) Eine Gefährdung des unter dem Schutz des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG stehenden Rechts des Schuldners auf Leben und körperliche Unversehrtheit kann im Vollstreckungsschutzverfahren nicht nur bei der konkreten Gefahr eines Suizids gegeben sein. Die Vollstreckung kann auch aus anderen Gründen eine konkrete Gefahr für das Leben des Schuldners begründen oder wegen schwerwiegender gesundheitlicher Risiken eine mit den guten Sitten unvereinbare Härte im Sinne von § 765a ZPO darstellen (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des 2. Senats v. 29.06.2022 – 2 BvR 447/22, Rn. 42 m. w. N.). Einzubeziehen sind dabei nicht nur die Gefahren für Leben und Gesundheit des Schuldners während des Räumungsvorgangs, sondern auch die Lebens- und Gesundheitsgefahren im Anschluss an die Zwangsräumung (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des 2. Senats v. 29.06.2022 – 2 BvR 447/22, Rn. 43 m. w. N.). […]
(8) cc) Das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG verpflichtet die Vollstreckungsgerichte, bei der Prüfung der Voraussetzungen des § 765a ZPO auch die Wertentscheidungen des Grundgesetzes und die dem Schuldner in der Zwangsvollstreckung gewährleisteten Grundrechte zu berücksichtigen. Eine unter Beachtung dieser Grundsätze vorgenommene Würdigung aller Umstände kann in besonders gelagerten Einzelfällen dazu führen, dass die Vollstreckung für einen längeren Zeitraum und – in absoluten Ausnahmefällen – auf unbestimmte Zeit einzustellen ist (vgl. BVerfG, Beschlüsse der 3. Kammer des 2. Senats v. 29.06.2022 – 2 BvR 447/22, Rn. 38; v. 10.01.2024 – 2 BvR 26/24, Rn. 7 m. w. N.). […]
(9) dd) Es spricht derzeit einiges dafür, dass das Amtsgericht diesen Anforderungen im Hinblick auf die besondere Situation der schwangeren Antragstellerin zu 2. und ihrer Familie nicht gerecht geworden ist. Die Antragsteller haben unter Vorlage eines Krankenhausberichts auf die geplante primäre Sectio der Antragstellerin zu 2. am 23. Mai 2025 hingewiesen. Es ist zweifelhaft, ob die gesundheitliche Situation der Antragstellerin zu 2. im Hinblick auf das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG), die sich unmittelbar vor einer Entbindung durch einen Kaiserschnitt befindet, vom Amtsgericht hinreichend gewürdigt worden ist. Gleiches gilt zur Versorgung des noch ungeborenen Kindes in einer Notunterkunft. Die Antragsteller haben wiederholt vorgetragen, dass eine Unterbringung in Containern der Gemeinde das Mindestmaß an medizinischer und hygienischer Grundversorgung angesichts der konkreten Situation der Antragsteller vermissen lasse.
(10 ) (1) In seinem den beantragten Räumungsschutz ablehnenden Beschluss hat das Amtsgericht bereits die gebotene Abwägung der beiderseitigen Interessen von Gläubiger und Schuldnerin unter Hinweis darauf unterlassen, dass das Vorbringen der Antragsteller bereits keine mit den guten Sitten nicht vereinbare Härte im Sinne des § 765a Abs. 1 ZPO darstelle. […] die Begründung des Amtsgerichts, mit der es eine weitere Aufklärung letztlich für verzichtbar hielt, ist nicht tragfähig. Das Amtsgericht meint im angegriffenen Beschluss vom 13. Mai 2025, die Antragsteller könnten sich im vorliegenden Fall nicht auf staatliche Schutzpflichten berufen, weil die erneute Schwangerschaft im Hinblick auf ihre finanzielle Situation „geradezu fahrlässig“ erscheine. Im Beschluss wird dann ergänzend die in der Antragsschrift nicht (näher dargelegte) Erkrankung des Antragstellers zu 1. und des minderjährigen Kindes zu Lasten der Antragsteller gewertet, ohne dass insoweit das Erfordernis einer Abwägung erörtert wurde. […]
(11) (2) In seinem Nichtabhilfebeschluss bezüglich der eingelegten sofortigen Beschwerde nimmt das Amtsgericht zwar vordergründig eine Abwägung vor, räumt aber dem „durch Art. 19 Abs. 4 und 14 GG geschützten Räumungsanspruch des Gläubigers“ Vorrang ein. Dies lässt besorgen, dass es an einer hinreichenden Berücksichtigung der grundrechtlich geschützten Positionen der Antragstellerin zu 2. und ihrem ungeborenen Kind im Rahmen der Abwägung fehlt. […]
(12) Auch der Verweis im Nichtabhilfebeschluss des Amtsgerichts auf die Zuständigkeit der Ordnungsbehörde für den Schutz der Antragsteller begegnet verfassungsrechtlichen Bedenken. Ist mit der Fortsetzung der Zwangsvollstreckung eine Lebens- oder Gesundheitsgefahr verbunden, bedeutet dies zwar noch nicht, dass ohne Weiteres Vollstreckungsschutz nach § 765a ZPO gewährt werden muss. Vielmehr ist eine Einstellung der Zwangsvollstreckung nicht notwendig, wenn der Gefahr durch geeignete Maßnahmen begegnet werden kann. Dies setzt aber voraus, dass die Fachgerichte die Geeignetheit der Maßnahmen sorgfältig geprüft und insbesondere deren Vornahme sichergestellt haben (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des 2. Senats vom 8.08.2019 – 2 BvR 305/19, Rn. 33 m. w. N.).
(13) Es ist Aufgabe der zuständigen staatlichen Stellen, eine menschenwürdige Unterbringung im Sinne von Art. 1 Abs. 1 GG sicherzustellen. Verfassungsrechtlich nicht unbedenklich erscheint es, wenn das Amtsgericht im Nichtabhilfebeschluss meint, dass es nicht seine Aufgabe sei, eine Zwangsvollstreckung trotz drohender menschenunwürdiger Bedingungen im Fall der Unterbringung vorläufig einzustellen. Insofern wäre es bei der Ablehnung des Antrags auf Vollstreckungsschutz Aufgabe des Vollstreckungsgerichts gewesen, zunächst zu prüfen und notfalls sicherzustellen, dass die konkrete Unterkunft für die Bedürfnisse der Antragstellerin zu 2. nach der Entbindung und des ungeborenen Kindes dem Mindestmaß an menschenwürdiger Unterbringung entspricht. […]
Anmerkung:
Die vorliegende Eilentscheidung der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts verdient nicht nur im Hinblick auf Räumungsvollstreckungen Beachtung. Das Gericht weist deutlich darauf hin, dass der Schutz von Leib und Leben durch staatliche Organe, also auch durch Gerichte, eine umfassende Sachaufklärung und eine ernstnehmende Abwägung mit den grundrechtlich geschützten Interessen anderer Verfahrensbeteiligter erfordert. Sie ist daher auch für die Anwendung etwa des Gewaltschutzübereinkommens (sog. Istanbul-Konvention) durch die (Familien)gerichte von Bedeutung, vgl. z. B. OLG Saarbrücken, Beschl. vom 22.04.2024 – 6 UF 22/24, STREIT 2/2025, Seite 72 ff.
Sabine Heinke, Hamburg