STREIT 3/2025

S. 99-101

Rede der Hessischen Staatsministerin zur Verleihung des Elisabeth Selbert- Preises des Landes Hessen an „Frauen streiten für ihr Recht e.V.“

Rede gehalten am 4. Juni 2025 in der Hessischen Staatskanzlei, Wiesbaden.

Mit dem Elisabeth Selbert-Preis werden Frauen und Männer ausgezeichnet, die „in hervorragender Weise mit ihren Leistungen und ihrer gestalterischen Kraft für die Gesellschaft zur Verwirklichung der Chancengleichheit von Frauen und Männern beigetragen haben“.
Das sind anspruchsvolle Kriterien. Und es gab auch in diesem Jahr viele qualitativ hochwertige, spannende und kreative Bewerbungen. Dank gilt meinen Jury-Kolleginnen und Kollegen, also Staatsminister Timon Gremmels, Dr. Annabelle Hornung, Professor Dr. Ute Sacksofsky, Frau Susanne Selbert und Frau Dr. Kerstin Wolff. Danke für Ihre Sorgfalt, Wertschätzung und Klugheit.
„Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ – Ein unmissverständlicher Satz, der in Artikel 3 Absatz 2 unseres Grundgesetzes steht. Er ist zugleich auch ein Leitsatz für unser tägliches Handeln! Ein Satz, der für uns selbstverständlich scheint und an dessen Sinnhaftigkeit niemand ernsthaft zweifelt. Aber erfüllen wir ihn zu 100 %? Wie war es zu Zeiten der Namensgeberin des heutigen Preises, der Rechtsanwältin Dr. Elisabeth Selbert? Antwort: Damals, im Jahr 1948, kam es im Parlamentarischen Rat zu einem heftigen Konflikt zwischen ihr und den 61 männlichen Abgeordneten, aber auch mit ihren drei Kolleginnen Frieda Nadig (SPD), Helene Weber (CDU) und Helene Wessel (Zentrum).
„Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ – diese von Elisabeth Selbert vorgeschlagene Formulierung zur Gleichberechtigung von Frauen und Männern im neuen Grundgesetz würde – so der allgemeine Einwand – ein fundamentales Rechtschaos zu Lasten der Frauen verursachen, weil faktisch Ungleiches gleichbehandelt würde. Auf diese Weise könne der „besondere“ Schutz für die Frau, den sie aufgrund ihrer biologischen Beschaffenheit benötige, zukünftig nicht mehr gewährleistet werden. Zwar entsprach das zahlenmäßige Geschlechterverhältnis im Parlamentarischen Rat so gar nicht der Realität in einem Land mit einem kriegsbedingt deutlich geringeren Anteil an Männern, trotzdem hatte Elisabeth Selbert mit einem derartigen Einspruch nicht gerechnet.
Für sie war es selbstverständlich, dass nun nach Diktatur und Krieg nicht nur die politische Gleichberechtigung wie in der Weimarer Verfassung, sondern auch die juristische Gleichstellung von Frauen und Männern als Grundrecht festgeschrieben werden würde. Sie musste also kämpfen – und sie kämpfte! Es wurde ein langer, enervierender Kampf – ein zähes Ringen um juristische Formulierungen mit verbissenen Redegefechten und zahllosen Disputen in parlamentarischen Gremien, in Hinterzimmern, in vielen öffentlichen Veranstaltungen, in der Publizistik. Elisabeth Selbert ließ sich aber nicht beirren. Sie blieb eine hartnäckige treibende Kraft inmitten von Gegenwind und Widerständen aus allen Parteien, teilweise auch ihrer eigenen, der SPD. Heute wissen wir: Dieser Kampf hat sich gelohnt!

Aber wie hat sie das durchgehalten? Woher nahm sie ihre Kraft? Elisabeth Selbert, geboren 1896 als eine von vier Töchtern eines Justizbeamten im Strafvollzug und seiner Ehefrau in Kassel, machte bereits frühzeitig die Erfahrung, dass Mädchen weniger galten als Jungen. Sie war eine begabte Schülerin, der das Schulgeld aufgrund ihrer guten Leistungen erlassen worden war. Trotzdem musste sie 1912 als Sechzehnjährige die Realschule ohne Zeugnis und ohne Mittlere Reife verlassen, denn Abitur und Studium waren nicht für Mädchen vorgesehen. Diese Diskriminierungserfahrungen hat sie niemals vergessen!
Elisabeth Selbert hatte nun verstanden, dass sie aufgrund ihrer Herkunft nur mit einer auf Berufstätigkeit fußenden finanziellen Absicherung ihre eigenen Lebensvorstellungen, Interessen und Wünsche verwirklichen konnte. So besuchte sie zunächst die Höhere Handelsschule und arbeitete ab 1916 im mittleren Dienst bei der Post. Das Ende des 1. Weltkrieges im Jahr 1918 stellte dann die zweite entscheidende Weiche in Elisabeth Selberts Leben. Sie engagierte sich für die Sozialdemokratische Partei Deutschlands und erlebte die von dieser Partei durchgesetzte Einführung des Frauenwahlrechts. Und dann war da noch ihr Ehemann, der Buchdrucker und sozialdemokratische Kommunalpolitiker Adam Selbert. Er stand an ihrer Seite und unterstützte sie nach Kräften. So konnte sie 1926 – im Alter von 30 Jahren und als Mutter von zwei kleinen Söhnen – als erste Frau in Kassel ihr Abitur nachholen.
Die Eheleute führten eine gleichberechtigte Partnerschaft – zur damaligen Zeit völlig ungewöhnlich. Elisabeth studierte Rechts- und Staatswissenschaft und legte im Oktober 1929 nach nur sechs Semestern das Erste Juristische Examen ab. Schon ein Jahr später (!) folgte dann die Promotion mit dem Titel „Ehezerrüttung als Scheidungsgrund“. Was für ein Tempo! Und was für ein ungewöhnliches Thema für ihre Doktorarbeit! In ihrer Dissertation verwarf Elisabeth Selbert das mit der Einführung des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) 1896 im Familienrecht festgeschriebene Verschuldensprinzip bei der Ehescheidung und sprach sich stattdessen für Ausgleichsregelungen bei Trennungen aus. Zerrüttungsprinzip statt Schuldprinzip – diese Idee sollte sich erst ein halbes Jahrhundert später in der Gesetzgebung durchsetzen. Elisabeth Selbert war ihrer Zeit weit voraus!
Für all ihre Leistungen und ihren Erfolg zahlte sie aber einen hohen Preis und musste krankheitsbedingt eine längere Ruhepause einlegen. Auch kam der Nationalsozialismus an die Macht. Er wollte die Rolle der Frau allein auf die Mutterschaft reduzieren. Die neue gesellschaftliche Realität bestand dementsprechend aus dem massiven Herausdrängen von Frauen aus qualifizierten Berufen und setzte sich in dem Entzug des passiven Wahlrechts fort. Auch der Zugang zur Anwaltschaft wurde für Frauen gesperrt. Es ist allein glücklichen Umständen zu verdanken, dass Elisabeth Selbert als letzte Frau in Deutschland (!) die Zulassung als Rechtsanwältin für Familienrecht erhielt. Mit der eigenen Kanzlei ernährte sie nun 12 Jahre lang bis zum Kriegsende ihre Familie allein; da Adam Selbert als Sozialdemokrat verfolgt und mit Berufsverbot belegt wurde, konnte er nichts zum Familienunterhalt beitragen.

Elisabeths Thema in ihrer Arbeit war und blieb die Rechtsstellung der Frauen. Beruflich wurde sie nahezu täglich mit den Nöten von Frauen konfrontiert, deren Ehen scheiterten und denen nach der Scheidung nichts mehr blieb. Ihre berufliche Praxis verstärkte ihre Gewissheit nur noch, dass das bestehende Familienrecht Frauen gravierend benachteilige und sie als Menschen 2. Klasse behandele.
Das Kriegsende im Mai 1945 stellte nach den langen Jahren von Unterdrückung, Willkürherrschaft, Entbehrungen und Bombenkrieg endlich die Freiheit in Aussicht und Elisabeth Selbert zögerte buchstäblich keinen Augenblick, sich mit Elan und aller Kraft aktiv an dem Aufbau eines neuen, freiheitlichen und demokratischen Staatswesens zu beteiligen. Die SPD, in der sie sich nun eifrig engagierte, entsandte sie schon im Jahr 1946 in die Verfassungsgebende Landesversammlung in Hessen. Wenig später wurde sie auch im Parlamentarischen Rat tätig, der für die sich abzeichnende Bundesrepublik Deutschland ein Grundgesetz entwerfen sollte.
Ihr Anliegen dort war es, die rechtliche und tatsächliche Gleichberechtigung der Frauen auf den Weg zu bringen. Ein Hindernis stellte dabei das seit der Kaiserzeit geltende Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) dar. Ihm zufolge war die Ehe für Frauen in rechtlicher Hinsicht ein persönliches Herrschaftsverhältnis. Ehefrauen waren zum Beispiel verpflichtet, im Hauswesen des Ehemannes Dienste zu leisten – die sogenannte Hausarbeit. Aufgrund der Stellung des Ehemannes als Familienoberhaupt unterlagen sie seinem Weisungsrecht und seiner Unterhaltspflicht. Der Ehemann besaß auch das Alleinentscheidungsrecht in allen ehelichen Angelegenheiten, sei es die Wahl von Wohnort und Wohnung, sei es eine Erwerbstätigkeit der Ehefrau oder die Führung des Haushaltes. Auch im Blick auf die Kindererziehung konnte letztlich der Vater bestimmen, wie diese zu geschehen hatte.
Als besonders gravierend erwies sich für Elisabeth Selberts Klientinnen die auf dem persönlichen Abhängigkeitsverhältnis der verheirateten Frauen im Bürgerlichen Gesetzbuch begründete wirtschaftliche Abhängigkeit einer Ehefrau. Mit der Heirat ging ihr Vermögen in die Verwaltung des Mannes über, der daraus fortan seinen Nutzen ziehen konnte. Dies betraf auch jede Form von Vermögen, das eine Ehefrau während der Ehe erworben hatte. Außerdem war sie verpflichtet, in seinem Geschäft mitzuarbeiten, wenn er dies wollte. Selbst wenn ein Ehepaar gewillt gewesen wäre, diese vom Bürgerlichen Gesetzbuch vorgegebene Rechtsordnung in einem eigenen Vertrag nach eigenen, für die Ehefrau günstigeren Bedingungen abzuändern, wäre dies nicht möglich gewesen. Elisabeth Selbert hatte sich schon in ihrer Dissertation für eine Ausgleichsregelung bei Trennungen ausgesprochen. Diese sollte ein gerechtes Güterrecht für beide Eheleute bewirken. Denn nach wie vor behielt ein Ehemann selbst bei eingereichter Scheidung das volle Verfügungsrecht auch über das von der Ehefrau in die Ehe eingebrachte Vermögen. Der Ehefrau war es bis zur vollzogenen Scheidung verboten, ein eigenes Konto zu eröffnen.

Nun, im November 1948, enthielt ein erster dem Parlamentarischen Rat vorgelegter Grundgesetzentwurf die alte Formulierung der Weimarer Verfassung: „Männer und Frauen haben die gleichen staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten.“ Dies besagte nahezu lediglich, dass Frauen wählen und gewählt werden konnten. Es hätten sich also überhaupt keine Auswirkungen auf die Reformierung der bestehenden Rechtsgebiete, insbesondere im Ehe- und Familienrecht, ergeben.
Also schlug Elisabeth Selbert statt der Weimarer Fassung den uns so wohlbekannten universalen Satz vor: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“. Diese sehr schlichte Formulierung hatte weitreichende Auswirkungen. Denn in diesem Satz wurde die Gleichberechtigung als unabdingbar postuliert und somit zum Auftrag erhoben. Daraus folgte, dass das BGB umfassend reformiert werden musste, denn dessen Regelungen wären mit einem Schlag verfassungswidrig gewesen.
Neben Selbert unterstützte nach anfänglichem Zögern auch Friederike Nadig, die zweite SPD-Frau im Parlamentarischen Rat, diesen Vorschlag und auch männliche Sozialdemokraten plädierten, wenn teilweise auch verzögert, für diesen Entwurf. Das reichte aber noch nicht aus. Deshalb initiierte Elisabeth Selbert eine Kampagne, in deren Verlauf Frauenverbände und Einzelpersonen Eingaben an den Parlamentarischen Rat richteten.

Unabhängig von der Frage, ob es ganze „Waschkörbe voller Eingaben“ waren, und es sogar im Gegenteil Eingaben gab, die sich offensichtlich gegen die Gleichberechtigung aussprachen, gelang es Selbert dann doch, so viel politischen Druck aufzubauen, dass die Formulierung schließlich durchging. In der entscheidenden Sitzung am 18. Januar 1949 wurde der Gleichheitsgrundsatz als unveräußerliches Grundrecht angenommen. Die Aufnahme des Satzes „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ bedeutete die Verpflichtung des Gesetzgebers, alle dem Prinzip der Gleichberechtigung entgegenstehenden Gesetze anzupassen. Also musste das BGB entsprechend gründlich überarbeitet werden.

Für Elisabeth Selbert war dieses Votum nach eigener Aussage die „Sternstunde ihres Lebens“. Diese Sternstunde war jedoch nur der Anfang der darauffolgenden jahrzehntelangen Bemühungen um die Reform des patriarchalisch geprägten Familienrechts gemäß dem Gleichberechtigungsanspruch der Verfassung. Erst am 3. Mai 1957, also acht Jahre später, verabschiedete der Deutsche Bundestag das „Gesetz über die Gleichberechtigung von Mann und Frau auf dem Gebiet des bürgerlichen Rechts“, das sogenannte Gleichberechtigungsgesetz.
Nach wie vor hatte der Vater aber noch in Erziehungsfragen das letzte Wort und auch die Vertretung des minderjährigen Kindes stand ihm allein zu. Diese beiden Regelungen wurden erst 1959 durch das Bundesverfassungsgericht aufgehoben. Die Karlsruher Richter, unter ihnen die erste weibliche Verfassungsrichterin Erna Scheffler, entschieden die Gleichordnung beider Elternteile bei der Kindererziehung. Der Familienpatriarch alter Couleur war damit entthront.
30 Jahre zuvor hatte die junge Juristin Elisabeth Selbert in ihrer Doktorarbeit für partnerschaftliche Eheverhältnisse und ein reformiertes Scheidungsrecht mit würdigen Formen der Trennung argumentiert. Sie musste allerdings 80 Jahre alt werden, um im Jahr 1977 zu erleben, dass im reformierten Scheidungsrecht das Schuldprinzip zugunsten des Zerrüttungsprinzips verworfen wurde.

Elisabeth Selbert hat mit ihrem Einsatz für ein zentrales Grundrecht tiefe Spuren hinterlassen, die weit über unser Land hinausreichen. Sie hat dies mit Weitblick und Beharrlichkeit getan und genau diese Eigenschaften verbinden die Preisträgerinnen des heutigen Tages mit ihr. Das Jahr 1983 ist nicht nur das Gründungsjahr des Elisabeth Selbert-Preises; es ist auch das Gründungsjahr des Vereins „Frauen streiten für ihr Recht“ und das Erscheinungsjahr der ersten Ausgabe der Zeitschrift „STREIT“.
Damit ist es Ihnen, liebe Preisträgerinnen, zu verdanken, dass sich Elisabeth Selberts Gleichberechtigungsartikel auch in den vielfältigen Facetten der Rechtspraxis wirksam niederschlagen konnte. Sie haben ein Stück Gleichstellungsgeschichte in Deutschland mitgeschrieben. Damit sind Sie für uns ein Vorbild und machen uns Mut für die immer noch anstehenden Herausforderungen. Genau das verbindet Sie auf eine einzigartige Weise mit der Namensgeberin unseres Preises, Elisabeth Selbert.