STREIT 1/2024

S. 39-40

OLG Oldenburg, § 138 Abs. 1 BGB

Sittenwidrigkeit der Mithaftungs­übernahme im Darlehensvertrag

1. Bei einer Mithaftungserklärung besteht nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs die tatsächliche Vermutung einer Sittenwidrigkeit, wenn sich die Mitverpflichtete damit finanziell krass überfordert und wenn sie dem Hauptschuldner persönlich besonders nahesteht.
2. Es widerspricht dem Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden, wenn Kreditinstitute die emotionale Verbundenheit zur wirtschaftlichen Absicherung ihrer Forderungen ohne Rücksicht auf die über Gebühr betroffenen Interessen der Mithaftenden ausnutzen.
(Leitsätze der Redaktion)

Urteil des OLG Oldenburg vom 29.06.2023, 8 U 172/22

Aus den Gründen:
I.
Die Klägerin macht als kreditgebende Bank gegenüber der Beklagten gesamtschuldnerische Ansprüche aus einem gekündigten Darlehensvertrag geltend. Zusammen mit dem von der Klägerin gesondert in Anspruch genommenen CC unterschrieb die Beklagte am 16. April 2018 einen über die DD in Ort3 vermittelten „easyCredit“-Darlehensvertrag mit der Klägerin. Zu diesem Zeitpunkt verdiente die damals zwanzigjährige Beklagte als gelernte Bäckereifachverkäuferin rund 1.300 € netto.
Der Darlehensvertrag über einen Gesamtbetrag von 89.354,35 € sah eine monatliche Ratenzahlung von 1.065 € vor. Dem Vertragsschluss war vorausgegangen, dass CC als damaliger Freund der Beklagten wegen bestehender Verbindlichkeiten keinen weiteren Kredit über 7.500 € mehr erhielt, weshalb er die Beklagte davon überzeugte, den Vertrag mit ihm zusammen abzuschließen. Mit dem Kreditvertrag wurde indes nicht nur ein Darlehen über 7.500 € aufgenommen – es wurde auch eine Umschuldung von drei laufenden Kreditverbindlichkeiten des CC über insgesamt 46.670,61 € vorgenommen, wobei die Klägerin mit anteilig 36.970,61 € die größte Gläubigerin war.
Nachdem die Darlehensraten seit Anfang 2020 nicht mehr erfolgreich eingezogen werden konnten, kündigte die Klägerin nach Mahnung und Kündigungsandrohung das Darlehen und stellte die Restforderung über 58.312,26 € fällig. Abzüglich nicht verbrauchter Laufzeitzinsen und nicht verbrauchter Kosten einer Restkreditversicherung ergab dies die ursprüngliche Klageforderung in Höhe von 50.607,29 €, die die Klägerin zuzüglich Zinsen, Adressermittlungskosten, Mahnkosten und vergeblichen Vollstreckungsaufwendungen in Bezug auf den Gesamtschuldner CC geltend gemacht hat.
Wegen der Feststellungen und weiteren Einzelheiten wird auf das angefochtene Urteil Bezug genommen (§ 540 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO), mit dem das Landgericht der Klage hinsichtlich der Hauptforderung über 50.607,29 € stattgegeben hat. […]
Gegen die erfolgte Verurteilung richtet sich die Berufung der Beklagten, mit der sie ihr erstinstanzliches Vorbringen ergänzt und vertieft. Sie erklärt ausdrücklich die Anfechtung des Vertrages wegen Sittenwidrigkeit und verweist hierzu auf die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs bei krasser finanzieller Überforderung und einem persönlichen Näheverhältnis (Urteil vom 4. Dezember 2001 – XI ZR 56/01, juris). […]

II.
Die Berufung ist zulässig, insbesondere ist sie form- und fristgerecht erhoben, §§ 517, 522 Abs. 2 ZPO. Die Berufung ist auch begründet. Das angefochtene Urteil war insgesamt abzuändern. Der Klägerin steht gegenüber der Beklagten kein Zahlungsanspruch aus dem Darlehensvertrag vom 16. April 2018 zu.
Das Gericht der ersten Instanz hat richtigerweise festgestellt, dass die Beklagte nicht Darlehensnehmerin, sondern nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes (BGH, Urteil vom 16. Juni 2009 – XI ZR 539/07, juris, Rn. 14, m.w.N.) lediglich Mithaftende des Darlehensvertrages vom 16. April 2018 geworden ist. Zu Recht hat es darüber hinaus aufgezeigt, dass eine solche Mithaftungsübernahme im Falle einer – vom Landgericht hier zutreffend bejahten – krassen finanziellen Überforderung nach § 138 Abs. 1 BGB sittenwidrig ist, wenn die Gläubigerin nicht darlegen und beweisen kann, dass sie bei einem bestehenden Näheverhältnis eine emotionale Verbundenheit zwischen dem Mithaftenden und dem Hauptschuldner nicht in sittlich anstößiger Weise ausgenutzt hat (BGH, Urteil vom 15. November 2016 – XI ZR 32/16, juris, Rn. 20, m.w.N.).
Entgegen der Auffassung des Landgerichts hat die Klägerin aber keinen Nachweis dafür erbracht, dass die Beklagte den Vertrag nicht aus persönlicher Verbundenheit, sondern aufgrund einer autonomen, eigenverantwortlichen Entscheidung unterzeichnet hat. Den streitigen Parteivortrag der Beklagten, wonach diese den Vertrag in dem irrigen Glauben unterzeichnet hat, für nur 7.500 € einstehen zu müssen, hat sich die Klägerin zwar mit Schriftsatz vom 28. April 2023 zu eigen gemacht. Entgegen der Auffassung des Erstgerichts relativiert dieser Irrtum jedoch nicht, dass die Klägerin die Beklagte in sittlich anstößiger Weise zur Mithaftung ausgenutzt hat. Die Mithaftung der Beklagten ist daher sittenwidrig und der sie betreffende Vertrag nach § 138 Abs. 1 BGB nichtig.

1. Ob eine übernommene Verpflichtung als eigene Darlehensschuld oder als reine Mithaftung zu qualifizieren ist, hängt mit der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (Urteil vom 15. November 2016 – XI ZR 32/16, juris, Rn. 15) davon ab, ob man neben dem Darlehensnehmer als gleichberechtigter Vertragspartner einen Anspruch auf Auszahlung der Darlehensvaluta erhalten und im Gegenzug gleichgründig zur Rückzahlung des Darlehens verpflichtet sein soll, oder lediglich zu Sicherungszwecken mithaften und damit eine einseitig belastende Verpflichtung übernehmen soll. Zu Recht hat das Landgericht, auf dessen Ausführungen zur Vermeidung von Wiederholungen verwiesen wird, eine bloße Mithaftung der Beklagten angenommen. Wenn die 7.500 € überhaupt auf ein für sie zugängliches Konto überwiesen wurden, so waren sie jedenfalls dafür bestimmt, dass der Zeuge CC damit einen Pkw kaufen konnte. Die Beklagte hatte, da sie keinen Führerschein hat und das Fahrzeug offenkundig nicht selbst fahren sollte, kein eigenes sachliches oder persönliches Interesse an der Kreditaufnahme. Bloße Reflexe, die sich durch die Pkw-Nutzung sowie die Umschuldung der Verbindlichkeiten ihres damaligen Freundes auf die eigene Lebensführung ergeben können, genügen für eine gleichberechtigte Partnerschaft auf Darlehensnehmerseite gerade nicht.
2. Bei einer Mithaftungserklärung wie der vorliegenden besteht nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs die tatsächliche Vermutung einer Sittenwidrigkeit, wenn sich die Mitverpflichtete damit finanziell krass überfordert und wenn sie dem Hauptschuldner persönlich besonders nahesteht (BGH, Urteil vom 15. November 2016 – XI ZR 32/16, juris, Rn. 20 m.w.N.). Dies wird damit begründet, dass Menschen mitunter nur aufgrund eines emotionalen Näheverhältnisses dazu bereit sind, eine ruinöse finanzielle Belastung ohne einen wirtschaftlichen Gegenwert einzugehen. Es widerspricht dem Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden, wenn Kreditinstitute dieses zwischenmenschliche Verhalten zur wirtschaftlichen Absicherung ihrer Forderungen ohne Rücksicht auf die über Gebühr betroffenen Interessen der Mithaftenden ausnutzen. Nach diesen Kriterien war der Vertragsschluss im hier zu entscheidenden Fall sittenwidrig.

a) Die Mithaftungsübernahme überfordert die Beklagte in finanziell krasser Weise. Dies ist, wie das Landgericht bereits ausgeführt hat, nach gefestigter Rechtsprechung immer dann der Fall, wenn die mithaftende Person mit dem pfändbaren Teil ihres laufenden Einkommens und Vermögens bei Eintritt des Sicherungsfalls voraussichtlich nicht einmal die von den Darlehensparteien festgesetzte Zinslast dauerhaft alleine tragen kann (BGH, Urteil vom 16. Juni 2009 – XI ZR 539/07, juris, Rn. 18; BGH, Urteil vom 28. Mai 2002 – XI ZR 205/01, juris, Rn. 15). Das ist nach den zutreffenden Ausführungen des Landgerichts (LGU 6) hier der Fall.

b) Die Beklagte stand zu dem Darlehensnehmer auch in einem besonderen persönlichen Näheverhältnis. Herr CC war der erste feste Freund der Beklagten, mit welchem sie zeitweise zusammengezogen war. Insofern lag eine ausreichend gefestigte Lebenspartnerschaft vor.

c) Die Klägerin hat die tatsächliche Vermutung einer Sittenwidrigkeit nicht widerlegt. […] Anknüpfungspunkt der Sittenwidrigkeit ist allein, dass sich der Darlehensgeber die emotionale Bindung zwischen dem Darlehensnehmer und einer mithaftenden Person für die Eingehung einer persönlichen Sicherheit zunutze macht, wenn diese Haftung für die mithaftende Person absehbar einen ruinösen Umfang annimmt. […]

3. Auch die übrigen bei Vertragsschluss erkennbaren Umstände des Einzelfalles sprechen vorliegend nicht gegen, sondern für eine offenkundige, sittenwidrige Überforderung der Beklagten (vgl. BGH, Urteil vom 18. September 1997 – IX ZR 283/96, juris, Rn. 16). Das aus den genannten Gründen bereits bestehende, auffällige Missverhältnis zwischen der Belastung der Beklagten und dem Nutzen für die Klägerin wird dadurch verstärkt, dass die zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses zwanzigjährige Beklagte ersichtlich keine nennenswerte Erfahrung mit Kreditgeschäften hatte. Gleichzeitig bestand für die Klägerin ein besonderes Interesse daran, für die bei ihr bestehenden Verbindlichkeiten des Zeugen CC in Höhe von 36.970,63 € angesichts seiner weiteren Verbindlichkeiten bei anderen Kreditinstituten eine weitere persönlich haftende Schuldnerin zu erhalten. […]