STREIT 2/2018
S. 51-56
Unmittelbare Diskriminierung einer stillenden Arbeitnehmerin wegen unzureichender mutterschutzrechtlicher Gefährdungsbeurteilung des Arbeitsplatzes - Anmerkung zum Urteil des EuGH vom 19.10.2017 – C-531/15
In dem Rechtsstreit (s.u., S. 61 ff.) geht es um die Frage, ob die Entscheidung der beklagten Sozialversicherung, dass keine Gefährdung für die stillende Mutter durch die Arbeitsbedingungen besteht, auf einer zutreffenden Gefährdungsbeurteilung beruht. Der Beitrag stellt zunächst die Begründungen zur Anwendbarkeit des Art. 19 Gleichbehandlungsrichtlinie1 (Beweislastverteilung) auf diesen Sachverhalt vor. Weiter werden die Vorgaben des EuGH zur konkreten Anwendung der Beweislastregel erläutert. Gleichzeitig werden Bezüge zum deutschen Antidiskriminierungsrecht des AGG hergestellt. Die europarechtliche Gefährdungsbeurteilung gemäß Art. 4 Abs. 1 Mutterschutzrichtlinie2 wird nach Art. 3 durch Leitlinien der Kommission konkretisiert; darauf nimmt die Entscheidung Bezug und gibt Hinweise zur Durchführung einer ordnungsgemäßen mutterschutzrechtlichen Gefährdungsbeurteilung. Diese werden zuletzt im Kontext der neu gefassten Regelungen zum betrieblichen Mutterschutz erörtert.
Geltung des Art. 19 Gleichbehandlungsrichtlinie bei Streit über eine ordnungsgemäße mutterschutzrechtliche Gefährdungsbeurteilung
Der EuGH hat die vorgelegten Fragen dahin umformuliert, dass das vorlegende spanische Gericht mit seiner ersten Frage wissen will, ob die Beweislastverteilung gemäß Art. 19 Anwendung findet, wenn eine stillende Arbeitnehmerin die Gefährdungsbeurteilung ihres Arbeitsplatzes anficht, weil diese nicht gemäß Art. 4 Abs. 1 der Mutterschutzrichtlinie durchgeführt ist. Der EuGH verweist zunächst auf Art. 2 Abs. 2 c) Gleichbehandlungsrichtlinie. Danach gilt als Diskriminierung aufgrund des Geschlechts „jegliche ungünstigere Behandlung einer Frau im Zusammenhang mit Schwangerschaft oder Mutterschaftsurlaub im Sinne der Richtlinie 92/85/EWG“. Der EuGH stellt fest, dass der Zustand einer stillenden Mutter in engem Zusammenhang mit der Schwangerschaft bzw. dem Mutterschaftsurlaub steht. Folglich ist jede ungünstigere Behandlung einer Arbeitnehmerin aufgrund ihrer Situation als stillende Frau als unmittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zu bewerten.3
Eine ungünstigere Behandlung erfasst auch die fehlerhafte Gefährdungsbeurteilung des Arbeitsplatzes gemäß Art. 4 Richtlinie 92/85/EWG. Denn damit wird der stillenden Arbeitnehmerin und ihrem Kind der Schutz der Richtlinie vorenthalten. Indem die Gefährdungen nicht vollständig und richtig festgehalten werden, kann der Arbeitgeber auch nicht die notwendigen vorbeugenden Maßnahmen gemäß Art. 5 der Richtlinie ergreifen.4
Die unmittelbare Diskriminierung wegen der unzureichenden mutterschutzrechtlichen Gefährdungsbeurteilung betrifft die Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen der betroffenen Arbeitnehmerin, so dass der Anwendungsbereich der Richtlinie 2006/54/EG eröffnet ist (Art. 14 Abs. 1 c). Art. 19 Abs. 4 Buchst. a der Richtlinie stellt klar, dass die Regelungen über die Beweislastumkehr nach Abs. 1 auch auf Situationen Anwendung finden, die von der Mutterschutzrichtlinie erfasst sind.
Nach § 3 Abs. 1 Satz 2 AGG ist jede ungünstigere Behandlung einer Frau wegen Schwangerschaft oder Mutterschaft eine unmittelbare Benachteiligung wegen des Geschlechts. Die Benachteiligung einer Arbeitnehmerin, die Mutter ist, ist indes keine unmittelbare Benachteiligung wegen „Mutterschaft“.5
Denn zwischen der Benachteiligung und einer Schwangerschaft bzw. Entbindung muss ein direkter Zusammenhang bestehen, etwa bei einer Benachteiligung wegen der Inanspruchnahme von Schutzvorschriften.6
Eine ungünstigere Behandlung kann neben einer Nichteinstellung auch in der Verweigerung einer Beförderung,7
einer benachteiligenden Entlohnung8
oder in einer Entlassung liegen. Entlassungen während der Schwangerschaft sind als unmittelbare Diskriminierung zu beurteilen.9
Darüber hinaus erkennen EuGH und BAG auch solche Kündigungen, die im Rahmen eines Motivbündels mindestens auch wegen der (bevorstehenden) Schwangerschaft oder der Mutterschaft erfolgen, als unmittelbar diskriminierend an.10
Mit der vorliegenden Entscheidung wird die Anwendung des § 3 Abs. 1 Satz 2 AGG auf eine unzureichende mutterschutzrechtliche Gefährdungsbeurteilung erweitert.
Konkrete Anwendung der Beweislastregel auf den Streitfall
Im Kontext des vorliegenden Streits ist relevant, dass die ungünstigere Behandlung nicht ein aktives Tun voraussetzt, sondern auch in einem Unterlassen, z.B. angemessener Vorkehrungen zum Erhalt des Beschäftigungsverhältnisses von Menschen mit Behinderungen bestehen kann.11
Es ist daher plausibel, dass auch das Nichtbeachten von Anforderungen nach Art. 4 der Mutterschutzrichtlinie als unmittelbare Benachteiligung beurteilt wird. Auch dieser Fall kann nur Arbeitnehmerinnen betreffen, ist mithin als unmittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zu werten, sodass Art. 19 Richtlinie 2006/54/EG anzuwenden ist.12
Der EuGH hat in einem zweiten Schritt dazu Stellung genommen, wie sich Beweiserleichterung des Art. 19 in einem Streit um eine ordnungsgemäße mutterschutzrechtliche Gefährdungsbeurteilung auswirkt. Nach der Systematik der Norm muss die Arbeitnehmerin zunächst Tatsachen glaubhaft machen, die das Vorliegen einer unmittelbaren Diskriminierung vermuten lassen. Es wird nicht verlangt, dass sie eine eigene detaillierte Gefährdungsbeurteilung durchführt, um die Beurteilung des Arbeitgebers zu widerlegen. Denn dazu fehlen die notwendigen personellen, medizinischen und technischen Mittel. Der EuGH hält den von der unmittelbaren Vorgesetzten vorgelegten Bericht für ausreichend, um die Indizwirkung zu bejahen. Denn darin werden spezifische arbeitsplatzbezogene Gefährdungen aufgezeigt, die auch in den Leitlinien nach Art. 3 der Richtlinie 92/85/EWG berücksichtigt werden. Nach der Systematik der Vorlageverfahren ist es letztlich Sache des vorlegenden Gerichts, dies abschließend zu prüfen. Bejahendenfalls obliegt es dann der beklagten Partei zu beweisen, dass die Risikobeurteilung nach den Vorgaben des Art. 4 der Richtlinie 92/85/EWG, d. h. in Übereinstimmung mit den Leitlinien der Kommission durchgeführt worden ist. Die vom Arbeitgeber vorgelegten Unterlagen begründen keine unwiderlegliche Vermutung dafür, denn die Schlussfolgerungen zu den fehlenden gesundheitlichen Risiken für Mutter und Kind sind nach Ansicht des EuGH nicht begründet.13
Die Beweisregel des Art. 19 Abs. 1 der Richtlinie 2006/54 wird durch § 22 AGG in deutsches Recht umgesetzt. § 22 AGG enthält keine Beweislastumkehr; die Beweislast wird zwischen den Parteien abgestuft verteilt. Die Beweiserleichterung bezieht sich darauf, dass die Betroffenen nicht beweisen müssen, dass sie „wegen eines Merkmals“ nach § 1 AGG benachteiligt werden. § 22 AGG soll Klägern erleichtern, den Kausalzusammenhang zwischen der Zugehörigkeit zu der geschützten Gruppe (hier: Geschlecht) und dem Betroffensein von dem Nachteil zu erleichtern. Kläger müssen demnach nicht die „innere Tatsache“ der benachteiligenden Motivation nachweisen. Jedoch genügt die Behauptung der Zugehörigkeit zu der benachteiligten Gruppe nicht. Behauptungen „ins Blaue hinein“ über vermutete Benachteiligungen sind nicht als Indizien i. S. d. § 22 AGG zu werten.14
Es müssen der äußerlichen Wahrnehmung zugängliche Fakten – substantiiert – vorgetragen und ggf. bewiesen werden, die geeignet sind, die Vermutung einer Benachteiligung wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes zu begründen.15
Nach ständiger Rechtsprechung des BAG genügt eine nach allgemeiner Lebenserfahrung überwiegende Wahrscheinlichkeit für die Verknüpfung der Benachteiligung mit dem fraglichen Merkmal.16
Ggf. lassen einzelne Fakten für sich allein betrachtet keine Benachteiligung vermuten. Daher sind alle Umstände im Sinne einer Gesamtbetrachtung und Würdigung des Sachverhalts zu berücksichtigen. Aus einer Gesamtschau unterschiedlicher Tatsachen kann eine diskriminierende Grundhaltung des Arbeitgebers bzw. eine „Benachteiligungskultur“ im Unternehmen deutlich werden.17
§ 22 AGG entfaltet also vor allem in solchen Sachverhalten Wirkung, wo der Arbeitgeber nicht offen diskriminierende Äußerungen oder Verhaltensweisen zeigt.18
Dies gilt auch für den vorliegenden Fall. Die Arbeitnehmerin wurde nicht offen als „stillende Mutter“ unmittelbar benachteiligt. Eine insoweit verdeckte Benachteiligung wegen Geschlechts kommt aber in Betracht, weil der Arbeitgeber ggf. die mutterschutzrechtliche Gefährdungsbeurteilung nicht nach den Anforderungen der Richtlinie bzw. ihrer Leitlinien durchgeführt hat. Ziel der Beweisregelung ist, die wirksame Durchsetzung des Grundsatzes der Gleichbehandlung sicherzustellen. Dieses Ziel, welches Mutterschutzrichtlinie wie auch Gleichbehandlungsrichtlinie prägt, kann nach Ansicht des EuGH nicht erreicht werden, wenn die geschützten Arbeitnehmerinnen beweisen müssen, dass sie bzw. ihr Kind einem gesundheitlichen Risiko ausgesetzt sind.19
Im Sinne eines effektiven Rechtsschutzes wendet der EuGH die Beweisregel im vorliegenden Fall pragmatisch an. Die Arbeitnehmerin muss Indizien vortragen, die mit überwiegender Wahrscheinlichkeit dafür sprechen, dass die mutterschutzrechtliche Gefährdungsbeurteilung nicht den gesetzlichen Anforderungen entspricht. Daher wird eine Diskriminierung vermutet, und der Arbeitgeber muss beweisen, dass die Gefährdungsbeurteilung dem Standard des Arbeitsschutz- bzw. Mutterschutzgesetzes entspricht.20
Das Ergebnis der mutterschutzrechtlichen Gefährdungsbeurteilung ist entscheidend für die zu treffenden Schutzmaßnahmen nach §§ 9, 13 MuSchG bzw. für den Eingriff der Beschäftigungsverbote der §§ 11, 12 MuSchG. Das weitere „Ob“ und „Wie“ der Beschäftigung hängt davon ab, ist mithin für die Arbeitnehmerin von erheblicher Bedeutung für ihre berufliche Teilhabe und ihren Gesundheitsschutz. Eine unzureichende Gefährdungsbeurteilung kann – wie im Streitfall des EuGH – zu Risiken für Mutter (und Kind) führen. Sie kann aber auch zu voreiligen Versetzungen bzw. Beschäftigungsverboten führen, die dem Grundsatz des Benachteiligungsverbots (§ 1 Abs. 1 MuSchG) widersprechen. Mutterschutz darf nicht dazu führen, Diskriminierungsverbote zu unterlaufen; beiden Anliegen ist zu praktischer Wirksamkeit zu verhelfen.21
Kommt es zu einem Streit um Schutzmaßnahmen und/oder um das Ergebnis einer mutterschutzrechtlichen Gefährdungsbeurteilung, ist die Beweisführung für die Arbeitnehmerin nunmehr deutlich erleichtert. Vermutungstatsachen kann die Arbeitnehmerin u. a. durch Stellungnahmen von Vorgesetzten, Betriebsärzten, Sicherheitsfachkräften oder dem Betriebs- bzw. Personalrat vortragen, ggf. ergänzt durch eine Bescheinigung ihres betreuenden Arztes. Außerdem kann sie ihren Vortrag durch Einsicht in die Dokumentation der Gefährdungsbeurteilung nach § 5 ArbSchG i.V.m. § 10 MuSchG stützen.22
Wird eine unmittelbare Diskriminierung festgestellt, kann der Arbeitnehmerin außerdem ein Entschädigungsanspruch nach § 15 Abs. 2 AGG zustehen.23
Anforderungen an eine mutterschutzrechtliche Gefährdungsbeurteilung nach EU-Mutterschutzrichtlinie und Mutterschutzgesetz 2018
Grundätze des EuGH
Art. 4 Richtlinie 92/85/EWG verpflichtet den Arbeitgeber, Art, Ausmaß und Dauer der Exposition der Arbeitnehmerin gegenüber dem in der nicht abschließenden Liste im Anhang I der Mutterschutzrichtlinie genannten Agenzien, Verfahren und Arbeitsbedingungen für jede Tätigkeit, bei der insoweit ein besonderes Risiko besteht, zu beurteilen. Diese Beurteilung wird durchgeführt, um Risiken für eine schwangere, stillende oder jüngst entbundene Arbeitnehmerin abzuschätzen und die zu ergreifenden Maßnahmen zu bestimmen (persönlicher Schutzbereich des Art. 2 Richtlinie 92/85/EWG). Bei der Risikobeurteilung sind die nach Art. 3 Mutterschutzrichtlinie erlassenen Leitlinien der Kommission zu berücksichtigen; diese sollen als Leitfaden für die Beurteilung dienen.24
Aus den Leitlinien ergibt sich klar, dass eine pauschale und generelle Beurteilung des Arbeitsplatzes, der Arbeitsbedingungen und des allgemeinen Gesundheitszustands der durchschnittlichen Arbeitnehmerin nicht den Anforderungen von Art. 4 der Richtlinie entspricht. Die Risikobeurteilung umfasst eine systematische Überprüfung aller Gesichtspunkte der Arbeit in drei Phasen: als erste Phase zunächst die Ermittlung der Gefährdungen, die zweite Phase beinhaltet die Erfassung der jeweiligen Gruppe (Schwangere oder stillende Arbeitnehmerinnen, Wöchnerinnen), die dritte Phase umfasst eine qualitative und quantitative Risikoabschätzung. Diese Risiken sind, je nachdem welche Gruppe betroffen ist, unterschiedlich. Zudem handelt es sich bei der Schwangerschaft um einen sich ständig verändernden Zustand; verschiedene Risiken können sich während der einzelnen Phasen der Schwangerschaft unterschiedlich auf die Frau und das ungeborene Kind auswirken. Auch bei stillenden Frauen ist während der gesamten Stillzeit das Prinzip der Risikovermeidung und -minimierung zu beachten, sodass ggf. wiederholt eine Risikobeurteilung vorzunehmen ist. Der EuGH betont, dass gleiche Arbeitsbedingungen in den unterschiedlichen Phasen der Schwangerschaft, nach Entbindung bzw. in der Stillzeit jeweils unterschiedliche Probleme für Sicherheit und Gesundheit von Mutter und Kind mit sich bringen können. Deshalb muss die Risikobewertung die jeweiligen Arbeitsbedingungen, die jeweilige Situation der Frau und ihren individuellen Gesundheitszustand berücksichtigen.25
Gefährdungsbeurteilung nach dem Mutterschutzgesetz
Auch die reformierten Normen des Mutterschutzgesetzes 2018 haben sich in ihrer Auslegung und Anwendung an den europäischen Richtlinien zu orientieren, d.h. an der Rahmenrichtlinie zum Arbeitsschutz (Richtlinie 89/391/EWG), der Gleichbehandlungsrichtlinie 2006/54/EG und der Mutterschutzrichtlinie 92/85/EWG. Die europarechtlichen Vorgaben verpflichten zur Beachtung von Prävention und Partizipation, der Anpassung der Arbeitsbedingungen an den Menschen und dem Schutz vor Diskriminierung.26
Das zentrale Instrument des betrieblichen Mutterschutzes ist die mutterschutzrechtliche Gefährdungsbeurteilung gemäß § 10 MuSchG. Der Arbeitgeber ist verpflichtet, die Arbeitsbedingungen in Bezug auf spezifische Gefährdungen für Schwangere, jüngst entbundene Frauen und stillende Arbeitnehmerinnen, sowie ihr (ungeborenes) Kind zu beurteilen. Zwar nennt § 10 Abs. 1 MuSchG nur Schwangere und Stillende; in europarechtskonformer Auslegung müssen auch die Arbeitsbedingungen in Bezug auf „Wöchnerinnen“, die nicht stillen, erfasst werden. Auch wenn wegen der nach Geburt geltenden Schutzfrist gemäß § 3 Abs. 2 Frauen grundsätzlich in den ersten 8 Wochen nach der Geburt nicht beschäftigt werden dürfen, muss ihr Gesundheitsschutz auch in der Folgezeit berücksichtigt werden. Denn der Anwendungsbereich der Mutterschutzrichtlinie umfasst gemäß Art. 2 b) jede Arbeitnehmerin kurz nach der Entbindung.27
Schon das allgemeine Arbeitsschutzrecht hat in § 4 Nr. 6 ArbSchG den Schutz von Schwangeren, stillenden und jüngst entbundene Frauen im Blick.28
Folgerichtig nimmt § 10 Abs. 1 MuSchG im Eingangssatz Bezug auf § 5 ArbSchG. Im Rahmen der Gefährdungsbeurteilung nach § 5 ArbSchG hat der Arbeitgeber bereits zu ermitteln, welche Tätigkeiten nach Art, Ausmaß und Dauer mutterschutzsensibel sind. Dies gilt unabhängig davon, ob Frauen beschäftigt werden, denn Arbeitsplätze sind geschlechtsunabhängig zu vergeben und grundsätzlich kommt jeder Arbeitsplatz auch für eine Frau in Betracht. Außerdem soll die Transparenz im Betrieb über mutterschutzspezifische Arbeitsbedingungen hergestellt werden. Nach dem Präventionsgedanken sollen Arbeitnehmerinnen bereits bei nicht sicherer Kenntnis über eine Schwangerschaft bzw. einer Nichtmitteilung in den ersten drei Schwangerschaftsmonaten Wissen über eventuelle Gefährdungen ihres Arbeitsplatzes haben. Zudem sollen ein frühzeitiges Wissen über mutterschaftsspezifische Risiken und eine Auseinandersetzung mit eventuell notwendigen Schutzmaßnahmen im Vorfeld – vor einem konkreten Anlass – den Weg für eine Weiterbeschäftigung ebnen. Denn das vorrangige Ziel des betrieblichen Mutterschutzes ist die gefährdete Weiterbeschäftigung, nicht die Exklusion (§ 9 Abs. 1 Satz 3 MuSchG).
Die mutterschutzrechtliche Gefährdungsbeurteilung hat alle durch die Arbeitsbedingungen möglichen Gefährdungen zu erfassen. Wie bei den Grundpflichten §§ 3-5 ArbSchG setzt das Mutterschutzgesetz am Begriff der „Gefährdung“, nicht der Gefahr an. Unter Gefährdung ist die „Möglichkeit eines Schadens oder einer gesundheitlichen Beeinträchtigung ohne bestimmte Anforderung an deren Ausmaß oder Eintrittswahrscheinlichkeit“ zu verstehen.29
Im Mutterschutzgesetz wird weiter der Begriff „unverantwortbare Gefährdung“ verwendet. Darunter fällt eine Gefährdung, „deren Eintrittswahrscheinlichkeit einer Gesundheitsbeeinträchtigung angesichts der zu erwartenden Schwere des möglichen Gesundheitsschadens nicht hinnehmbar ist“ (§ 9 Abs. 2 Satz 2 MuSchG). Die Gefährdungsbeurteilung muss „Gefährdungen“ und „unverantwortbare Gefährdungen“ erfassen; eine nicht abschließende Aufzählung unverantwortbarer Gefährdungen enthalten §§ 11, 12 MuSchG.30
Diese Regelungen liefern auch Anhaltspunkte für die zu beurteilenden Risiken.
Im Übrigen hat der Arbeitgeber in europarechtskonformer Auslegung des Mutterschutzgesetzes die genannten Leitlinien der EU-Kommission zu beachten; dies stellt die EuGH Entscheidung nun ausdrücklich klar. Der Arbeitgeber muss demnach allgemeine Arbeitsbedingungen, wie z. B. Arbeitszeit oder stehende Beschäftigung mutterschutzrechtlich beurteilen. Weiter sind spezifische Gefährdungen, u.a. Vibrationen, ionisierende Strahlung oder Hitze zu berücksichtigen. Anders als in §§ 11, 12 MuSchG werden in den Leitlinien auch konkrete psychische Belastungen, wie etwa Lärm, Mangel an Pausen und Stress genannt. Wie § 9 Abs. 1 Satz 1 MuSchG aber klarstellt, sind diese zu berücksichtigen; dies ergibt sich im Übrigen auch schon aus § 5 Abs. 3 Nr. 6, § 4 Nr. 1 ArbSchG.31
Wegen der großen Bedeutung in typischen Frauenberufen der Pflege, Erziehung und sozialen Arbeit müssen psychische Belastungen unbedingt im Fokus der mutterschutzrechtlichen Gefährdungsbeurteilung stehen. Dies verdeutlicht auch der Sachverhalt vorliegenden EuGH-Urteils; die Klägerin arbeitet in der Notaufnahme eines Krankenhauses im Schichtdienst. Die auftretenden Gefährdungsfaktoren u. a. Zeitdruck, Schichtdienst, Umgang mit (schwierigen) Klienten/Patienten und hohe Verantwortung für Menschen sind kennzeichnend für soziale Berufe.32
Eine generelle einmalige Gefährdungsbeurteilung ist nicht ausreichend. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung von Juni 2016 sah die Verpflichtung zur „unverzüglichen Konkretion“ vor. Nach Interventionen insbesondere der Arbeitgeber ist diese Formulierung gestrichen worden.33
Nun verpflichtet § 10 Abs. 2 MuSchG in Verbindung § 9 Abs. 1 Satz 2 MuSchG den Arbeitgeber im Falle einer Schwangerschaft, die Maßnahmen auf Wirksamkeit zu überprüfen und ggf. anzupassen. Weiter ist der Arbeitnehmerin ein Gespräch über die Anpassung der Arbeitsbedingungen anzubieten. Diese Regelungen können effektiv nur umgesetzt werden, wenn eine Überprüfung der Ergebnisse der allgemeinen Gefährdungsbeurteilung in Bezug auf die konkrete Situation der (nun) Schwangeren, stillenden oder jüngst entbundenen Arbeitnehmerin erfolgt. Das Urteil des EuGH verdeutlicht, dass eine individuelle anlassbezogene Überprüfung der Ergebnisse der Gefährdungsbeurteilung europarechtlich gefordert ist. Der EuGH betont, dass nur eine „spezifische Prüfung unter Berücksichtigung der individuellen Situation der betreffenden Arbeitnehmerin“ den Anforderungen von Art. 4 der Richtlinie 92/85/EWG genügt. Auch die Aussagen zur stetigen Anpassung der Gefährdungsbeurteilung wegen der Veränderungen während einer Schwangerschaft und der Zeit nach der Entbindung stützen diese Rechtsauffassung.34
Das Urteil des EuGH enthält damit wichtige Klarstellungen für eine europarechtskonforme Auslegung der neuen Regelungen zur mutterschutzrechtlichen Gefährdungsbeurteilung gemäß § 10 MuSchG. Der Arbeitgeber hat sich an den Leitlinien der EU-Kommission zu orientieren, die ausdrücklich auch psychische Gefährdungen umfassen. Eine generelle einmalige Gefährdungsbeurteilung ist nicht ausreichend. Die Gefährdungsbeurteilung ist anlassspezifisch zu überprüfen; sie ist an die individuellen Arbeitsbedingungen und den individuellen Gesundheitszustand der schwangeren, stillenden oder jüngst entbundenen Arbeitnehmerin anzupassen.
Schlussbemerkung: Berufliche Teilhabe statt Exklusion
Auf der Grundlage der Ergebnisse der Gefährdungsbeurteilung hat der Arbeitgeber zu entscheiden, ob keine Schutzmaßnahmen, eine Umgestaltung der Arbeitsbedingungen oder ein Beschäftigungsverbot notwendig sind (§ 10 Abs. 2 MuSchG). § 13 MuSchG gibt eine klare Rangfolge der Schutzmaßnahmen vor: die Anpassung der Arbeitsbedingungen hat Vorrang vor einem Arbeitsplatzwechsel und einem Beschäftigungsverbot. Die Umgestaltung der Arbeitsbedingungen bei der Feststellung mutterschutzspezifischer Gefährdungen bzw. unverantwortbarer Gefährdungen hat alle Möglichkeiten einer Anpassung in Betracht ziehen. Über technische Schutzmaßnahmen hinaus sind Dauer und Lage der Arbeitszeit, die Arbeitsaufgabe, die Arbeitsintensität und die Arbeitsumgebung ggf. anzupassen. Die Grenze der Anpassungspflicht verläuft an Hand des Kriteriums „finanziell, technisch, organisatorisch unverhältnismäßig“ u.a. in Abhängigkeit der zeitlichen Dimension.
Der Berücksichtigung der individuellen Situation der Arbeitnehmerin kommt dabei eine große Bedeutung zu.35
Diese kann indes nur einbezogen werden, wenn in einem kommunikativen Prozess über notwendige Anpassungsmaßnahmen gesprochen wird. Diesbezüglich gibt es in der betrieblichen Praxis große Defizite.36
Es gibt zu wenig Abstimmung über Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten, aber häufig eine schnelle und schematische Exklusion durch Beschäftigungsverbote. Dies ist mit den Zielen der Mutterschutzrichtlinie und des Mutterschutzgesetzes nicht vereinbar. Die Fokussierung auf Beschäftigungsverbote ist aufzubrechen; die Neuregelungen weisen in die richtige Richtung.37
Sie sind nun – auch in Zusammenarbeit mit den betrieblichen Arbeitsschutzakteuren, sowie Betriebs- und Personalrat – in die Praxis umzusetzen.
- Richtlinie 2006/54 EG des europäischen Parlaments und des Rates vom 05.07.2006 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Chancengleichheit und Gleichbehandlung von Männern und Frauen in Arbeits-und Beschäftigungsfragen, ABl. Nr. L 204, S. 23. ↩
- Richtlinie 92/85/EWG des Rates vom 19.10.1992 über die Durchführung von Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes von schwangeren Arbeitnehmerinnen, Wöchnerinnen und stillenden Arbeitnehmerinnen am Arbeitsplatz, ABl. Nr. L 348 S. 1. ↩
- Erwägungsgrund Nr. 23 der EU-Richtlinie 2006/54 weist auf die st. Rsp. des EuGH seit 8.11.1990 (C 177/88 – Dekker) hin. ↩
- Vgl. Schlussanträge der GA‘in Sharpston Rn. 57. ↩
- Zur Abgrenzung vgl. BAG v. 18. 9. 2014 – 8 AZR 753/13; nachgehend LAG Hamm vom 11.6.2015 – 11 Sa 194/15 mit Anm. Feldhoff jurisPR-ArbR 8/2016 Anm. 3. ↩
- ErfK-Schlachter 18. Aufl. 2018 § 3 AGG Rn. 6. ↩
- BAG 27.1.2001 – 8 AZR 483/09; BAG 24.4.2008 – AZR 257/07 (zu § 611 a BGB). ↩
- BAG v.2.8.2006 – 10 AZR 425/05; EuGH v. 1.7. 2010 – C 194/08 – Gassmayr. ↩
- ArbG Berlin v. 8. 5. 2015 – 28 Ca 18485/14 und BAG v. 12.12.2013 – 8 AZR 838/12; dazu Feldhoff STREIT 2015, S. 111 ff. ↩
- EuGHv. 26. 2. 2008 – C 506/06 – Mayr; EuGH v. 11.10.2007 – C 460/06 – Paquay; BAG 26. 3. 2015 – 2 AZR 237/14. ↩
- EuGH 11.4.2013 – C-335/11 und C-337/11; BAG 21.4.2016 – 8 AZR 402/14. ↩
- Vgl. dazu Schlussanträge der GA‘in Sharpston Rn. 62. ↩
- Zu den Defiziten Schlussanträge der GA‘in Sharpston Rn. 46, 47. ↩
- Vgl. Vorlagenbeschluss des BAG v. 20.5. 2010 8 AZR 287/08 (A) zum EuGH zur Frage nach einem Auskunftsanspruch des Bewerbers über die Auswahlentscheidung, dazu EuGH v. 19.4.2015 – C 415/10 – Meister. ↩
- ErfK-Schlachter § 22 AGG Rn. 3; Däubler/Bertzbach-Bertzbach § 22 AGG Rn. 23. ↩
- BAG v. 17.12.2009 – 8 AZR 670/08; BAG v. 18. 9. 2014 – 8 AZR 753/13; LAG Hamm 11.6.2015 – 11 Sa 194/15 mit Anm. Feldhoff jurisPR-ArbR 8/2016 Anm. 3. ↩
- BAG v. 27.1.2011 – 8 AZR 483/09; ErfK-Schlachter § 22 Rn. 3 ↩
- Anschaulich BAG v. 17.12.2009 – 8 AZR 670/08 zum Merkmal „Behinderung“ ↩
- Schlussanträge der GA‘in Sharpston Rn. 64,65 ↩
- Kohte/Beetz jurisPR-ArbR 6/2018 Anm. 2 zu EuGH 19.10.2017 – C-531/15 ↩
- HK-ArbSchR/Beetz 2. Aufl. 2018 Betrieblicher Mutterschutz Rn. 4; Nebe jurisPR – ArbR 25/2017 Anm. 1; Feldhoff jurisPR-ArbR 30/2009, Anm.1 zu ArbG Wiesbaden v. 30.10.2008 – 5 Ca 632/08; jurisPK Familie und Beruf/Nebe Kap. 5.1 Rn. 21 ff. ↩
- HK-ArbSchR/Faber/Blume § 6 ArbSchG Rn.20. ↩
- HK-ArbSchR/Beetz Betrieblicher Mutterschutz Rn. 42. ↩
- MITTEILUNG DER KOMMISSION über die Leitlinien für die Beurteilung der chemischen, physikalischen und biologischen Agenzien sowie der industriellen Verfahren, die als Gefahrenquelle für Gesundheit und Sicherheit von schwangeren Arbeitnehmerinnen, Wöchnerinnen und stillenden Arbeitnehmerinnen am Arbeitsplatz gelten (Richtlinie des Rates 92/85/EWG); KOM (2000) 466 endgültig. ↩
- Schlussanträge der GA‘in Sharpston Rn. 41 ff. ↩
- HK-ArbSchR/Beetz Betrieblicher Mutterschutz Rn. 4; Nebe jurisPR-ArbR 25/2017 Anm. 1. ↩
- Nebe jurisPR-ArbR 25/2017 Anm. 1; HK-ArbSchR/Beetz Betrieblicher Mutterschutz Rn. 12. ↩
- BT-Drs. 18/8963 S. 68; HK-ArbSchR/Beetz Betrieblicher Mutterschutz Rn. 13. ↩
- Zur Abgrenzung „Gefahr“ von „Gefährdung“ HK-ArbSchR/Faber/Blume § 4 ArbschG Rn. 10. Ff. ↩
- Aligbe ArbR Aktuell 2018, S. 62 f.; HK-ArbSchR/Beetz Betrieblicher Mutterschutz Rn. 27. ↩
- HK-ArbSchR/Beetz Betrieblicher Mutterschutz Rn. 12; vgl. Stellungnahme des djb vom 29. 3. 2016 S.9; ausführlich zur Beurteilung psychischer Gefährdungen HK-ArbSchR Faber/Blume § 4 ArbSchG Rn. 19 ff., § 5 ArbSchG Rn. 30 ff. ↩
- Kunze, Burnout und Sucht in Sozialen Berufen in: Badura (Hg.) Fehlzeitenreport 2013, S. 183 ff.; Stolz-Willig Arbeitsgestaltung und Gesundheitsschutz in der Sozialwirtschaft in: Weg/Stolz-Willig (Hg.) Agenda gute Arbeit: geschlechtergerecht! 2014, S. 188ff.; Merchel, Anforderungen und Belastungen der Fachkräfte in Jugendämtern in: Merchel (Hg.) Handbuch ASD 2. Aufl. 2015 S. 380 ff. ↩
- Zum Gesetzgebungsverfahren Nebe juris PR-ArbR 28/2016 Anm. 1. ↩
- Schon Nebe juris PR-ArbR 25/2017 Anm. 1; HK-ArbSchR/Beetz Betrieblicher Mutterschutz Rn. 15; Kohte/Beetz jurisPR-ArbR 6/2018 Anm. 2 zu EuGH 19.10.2017 – C-531/15 ↩
- HK-ArbSchR/Beetz Betrieblicher Mutterschutz Rn. 29 ↩
- Vgl. zum Problem der mangelnden Abstimmung bei Rückkehr aus dem Mutterschutz bzw. der Elternzeit: LArbG Rostock v. 26.11.2008 – 2 Sa 217/0 mit Anm. Nebe juris PR-ArbR 36/2009, Anm. 1; ArbG Bochum 22.12.2010 – 5 Ca 2700/10 mit Anm. Feldhoff jurisPR-ArbR 37/2011 Anm. 6 m.w.N. ↩
- Nebe juris PR-ArbR 25/2017 Anm. 1; Stellungnahme des djb vom 29.3.2016 S. 2 ↩