STREIT 2/2024
S. 67-72
Verein KlimaSeniorinnen Schweiz gegen die Schweiz
Zur Entscheidung des EGMR vom 09.04.2024 „Verein KlimaSeniorinnen Schweiz und andere gegen die Schweiz“: Klarstellungen zur Beschwerdebefugnis nach Art. 34 EMRK
A Drei Beschwerden als Ausgangspunkt
Am 09.04.2024 entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg zum ersten Mal über die Auswirkungen des Klimawandels auf die Menschenrechte und die sich daraus ergebenden staatlichen Verpflichtungen. Ausgangspunkt waren neben der Beschwerde des Vereins KlimaSeniorinnen Schweiz (KlimaSeniorinnen)1
noch zwei weitere Beschwerden,2
die von der Großen Kammer zeitgleich entschieden wurden und als Grundlage für die künftige Rechtsprechung des Gerichtshofs im Zusammenhang mit dem Klimawandel herangezogen werden sollten, weshalb der Gerichtshof bis zur Entscheidung am 09.04.2024 die Entscheidung in anderen Fällen mit Bezug zum Klimawandel aufschob.3
Im Unterschied zum Fall der KlimaSeniorinnen blieben die anderen beiden Beschwerden jedoch ohne Erfolg, die Beschwerde von Jugendlichen und jungen Erwachsenen gegen Portugal und 32 weitere Staaten war insbesondere unzulässig mangels Rechtswegerschöpfung auf nationaler Ebene;4
die Beschwerde eines französischen Bürgermeisters blieb ohne Erfolg, da er aus Frankreich weggezogen war und daher nicht mehr betroffen war.5
Sowohl die erwartete Entscheidung des Gerichtshofs als auch das tatsächliche Urteil wurden in der Literatur umfänglich diskutiert,6
im Folgenden soll das Augenmerk jedoch weniger auf der grundsätzlichen Bedeutung der Entscheidung, als vielmehr auf den Feststellungen des Gerichtshofs zur Beschwerdebefugnis des Vereins und der Ablehnung der Beschwerdebefugnis der einzelnen Beschwerdeführerinnen liegen. Dazu sollen zunächst die wesentlichen Punkte der Entscheidung der Großen Kammer nachgezeichnet werden:
B Verein KlimaSeniorinnen Schweiz und andere gegen die Schweiz
Die Beschwerde war von insgesamt fünf Beschwerdeführerinnen eingereicht worden, die argumentierten, die Schweiz habe ihre Menschenrechte verletzt, weil sie ihren Verpflichtungen im Kampf gegen den Klimawandel nicht ausreichend nachgekommen sei.7
Der erste Beschwerdeführer war der Verein KlimaSeniorinnen Schweiz selbst. Bei dem Verein handelt es sich um
„einen gemeinnützigen Verein nach schweizerischem Recht. Gemäß seinen Statuten wurde er gegründet, um im Namen seiner Mitglieder einen wirksamen Klimaschutz zu fördern und umzusetzen. […] Ziel des Vereins ist es die Reduktion der Treibhausgasemissionen in der Schweiz und deren Auswirkungen auf die globale Erwärmung zu erreichen. […] Der Verein hat mehr als 2.000 Mitglieder mit einem Durchschnittsalter von 73 Jahren. Nahezu 650 Mitglieder sind 75 Jahre oder älter.“8
Der Gerichtshof hat die Beschwerde insoweit als zulässig erachtet.9
Der Großen Kammer zufolge war der Verein beschwerdebefugt, da er die drei in der Rechtsprechung des EGMR aufgestellten Voraussetzungen erfüllte, er war insbesondere in der Lage nachzuweisen, dass er
„(a) rechtmäßig in dem betreffenden Hoheitsgebiet niedergelassen oder befugt war, dort zu handeln;
(b) im Einklang mit seinen satzungsgemäßen Zielen einen bestimmten Zweck verfolgt, nämlich die Verteidigung der Menschenrechte seiner Mitglieder oder anderer betroffener Personen in dem betreffenden Hoheitsgebiet, unabhängig davon, ob er [der Verein] sich auf kollektive Maßnahmen zum Schutz dieser Rechte gegen die Bedrohungen durch den Klimawandel beschränkt oder diese einschließt; und
(c) als wirklich qualifiziert und repräsentativ angesehen werden kann, um im Namen seiner Mitglieder oder anderer betroffener Personen innerhalb des Hoheitsgebiets zu handeln, die spezifischen Bedrohungen oder nachteiligen Auswirkungen des Klimawandels auf ihr Leben, ihre Gesundheit oder ihr Wohlergehen, wie sie durch die Konvention geschützt sind, ausgesetzt sind.“10
Von besonderer Bedeutung war dabei auch, wie bereits im Vorfeld erwartet wurde,11
die Aarhus Convention.12
Der Gerichtshof betonte, dass aufgrund der Natur des Klimawandels als „common concern of humankind“13
Klagen und Rechtsschutz durch Vereine und Interessenvertretungen oder Verbände eine besondere Bedeutung zukomme und diese oft auch die einzige Möglichkeit seien, (rechtliches) Gehör zu finden.14
Diese Überlegungen liegen auch der Aarhus Convention zugrunde,15
die von nahezu allen Europaratsmitgliedern ratifiziert worden ist,16
weshalb die Große Kammer unter Bezugnahme auf die Konvention zumindest von der „theoretischen Möglichkeit“ ausging, dass auch Umweltverbände klagebefugt sein können in Fällen mit Bezug zum Klimawandel,17
auch wenn die Aarhus Konvention selbst keine solche Möglichkeit vorsehe.18
Der Verband oder wie im vorliegenden Fall der Verein handelt dabei als Vertreter seiner Mitglieder, deren Rechte geltend gemacht werden:
„Die Besonderheiten im Zusammenhang mit dem Klimawandel sprechen dafür, die Möglichkeit anzuerkennen, dass Verbände unter bestimmten Voraussetzungen vor dem Gerichtshof als Vertreter der Personen auftreten können, deren Rechte vermeintlich beeinträchtigt sind oder beeinträchtigt werden. Wie der Gerichtshof bereits in [früherer Rechtsprechung] festgestellt hat, kann eine Vereinigung vor dem Gerichtshof klagebefugt sein, obwohl sie selbst nicht behaupten kann, Opfer einer Verletzung der Konvention zu sein. [...] In Anbetracht der Dringlichkeit, die nachteiligen Auswirkungen des Klimawandels zu bekämpfen, und der Schwere seiner Folgen, einschließlich des schwerwiegenden Risikos ihrer Unumkehrbarkeit, sollten die Staaten angemessene Maßnahmen ergreifen, insbesondere durch geeignete allgemeine Maßnahmen, um nicht nur die Konventionsrechte der Personen zu sichern, die gegenwärtig vom Klimawandel betroffen sind, sondern auch die Personen in ihrem Hoheitsbereich, deren Genuss der Konventionsrechte in der Zukunft schwer und unumkehrbar beeinträchtigt werden kann, wenn nicht rechtzeitig gehandelt wird. Der Gerichtshof hält es daher in diesem besonderen Zusammenhang für angebracht, die Möglichkeit einer Verbandsklage zum Schutz der Menschenrechte derjenigen, die von den nachteiligen Auswirkungen des Klimawandels betroffen sind, sowie derjenigen, die Gefahr laufen, davon betroffen zu werden, zuzulassen, anstatt sich ausschließlich auf Verfahren zu stützen, die von jedem Einzelnen in seinem eigenen Namen eingeleitet werden.“19
Sofern also juristische Personen die vom Gerichtshof aufgestellten Kriterien erfüllt, sind sie klagebefugt und können die Rechte ihrer Mitglieder geltend machen. Für den Verein KlimaSeniorinnen Schweiz entschied die Große Kammer:
„[...] In Anbetracht der Mitgliederbasis und der Repräsentativität des antragstellenden Vereins sowie des Zwecks seiner Gründung erkennt das Gericht an, dass er ein Instrument der kollektiven Rechtsverfolgung darstellt, das darauf abzielt, die Rechte und Interessen von Einzelpersonen gegen die Bedrohungen des Klimawandels im beklagten Staat zu verteidigen. Der Gerichtshof stellt ferner fest, dass die einzelnen Antragsteller keinen Zugang zu einem Gericht im Antragsgegnerstaat hatten. Insgesamt gesehen liegt es daher im Interesse einer geordneten Rechtspflege, der klagenden Vereinigung Klagebefugnis vor dem Gerichtshof einzuräumen.“20
Die vom Verein erhobene Beschwerde im Namen seiner Mitglieder unterfiel daher dem Anwendungsbereich des Art. 8 EMRK und Art. 6 EMRK und wurde vom EGMR insoweit auch als begründet angenommen, der die Mitglieder des Vereins in ihren Rechten aus Art. 8 und 6 EMRK verletzt sah.21
Der Großen Kammer zufolge enthält Art. 8 EMRK22
für die Mitgliedstaaten die Verpflichtung:
„[i]m Einklang mit den internationalen Verpflichtungen, die die Mitgliedstaaten insbesondere im Rahmen des UNFCCC und des Übereinkommens von Paris eingegangen sind, und den stichhaltigen wissenschaftlichen Erkenntnissen, die insbesondere vom IPCC vorgelegt wurden, müssen die Vertragsstaaten die erforderlichen Regelungen und Maßnahmen treffen, um einen Anstieg der Treibhausgaskonzentrationen in der Erdatmosphäre und einen Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur über ein Niveau hinaus zu verhindern, das schwerwiegende und unumkehrbare nachteilige Auswirkungen auf die Menschenrechte, insbesondere das Recht auf Privat- und Familienleben und Wohnung nach Artikel 8 des Übereinkommens, haben kann.“23
Dem ist die Schweiz, so der EGMR, nicht gerecht geworden: Die in der nationalen Gesetzgebung gesetzten Ziele, Karbonemissionen bis 2020 zu reduzieren, waren erstens zu gering angesetzt und zweitens nicht erreicht worden.24
Reformpläne für die Zeit nach 2020 scheiterten zunächst an einer Volksabstimmung, und die anschließend vorgenommene Reform umfasste lediglich den Zeitraum 2021-2024, schuf jedoch keinen umfassenden und aufgrund der Verpflichtungen aus Art. 8 EMRK erwartbaren gesetzlichen Rahmen für den Kampf der Schweiz gegen den Klimawandel.25
Das 2022 verabschiedete Klimagesetz enthalte zwar die richtigen Ziele im Hinblick auf die Emissionsreduktion, gebe jedoch nicht an, wie diese Ziele zu erreichen seien, sondern überlasse es Bundesrat und Parlament, diese beizeiten zu bestimmen.26
Für den Zeitraum zwischen 2025 und 2030 fehle es gänzlich an einer gesetzlichen Regelung.27
„Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die schweizerischen staatlichen Stellen bei der Schaffung des einschlägigen nationalen Rechtsrahmens einige kritische Lücken hinterlassen haben, einschließlich des Versäumnisses, die nationalen THG-Emissionsbegrenzungen durch ein Kohlenstoffbudget oder auf andere Weise zu bestimmen. Darüber hinaus hat der Gerichtshof festgestellt, dass der Staat, wie von den zuständigen Behörden eingeräumt, in der Vergangenheit seine Ziele für die Verringerung der Treibhausgasemissionen nicht erreicht hat. Indem er es versäumt hat, rechtzeitig und in angemessener und kohärenter Weise bei der Ausarbeitung, Entwicklung und Umsetzung des einschlägigen Rechts- und Verwaltungsrahmens tätig zu werden, hat der verantwortliche Staat seinen Ermessensspielraum überschritten und seine positiven Verpflichtungen im vorliegenden Zusammenhang nicht erfüllt.“28
Darüber hinaus habe die Schweiz gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK verstoßen, da die nationalen Gerichte die Klagen des Vereins ohne eine Entscheidung in der Sache als unzulässig abgewiesen hatten.29
Der Gerichtshof wies in diesem Zusammenhang noch einmal explizit auf die „Schlüsselrolle“ der nationalen Gerichte hin, denen im Rahmen von solchen Klimawandel-Fällen besondere Bedeutung zukomme, da der Gerichtshof selbst lediglich subsidiär zuständig sei.30
Um dieser subsidiären Zuständigkeit Ausdruck zu verleihen, hat der Gerichtshof es im Zusammenhang mit den nach Art. 46 EMRK zu ergreifenden Maßnahmen weitestgehend der Schweiz und dem Ministerrat überlassen, die passenden Maßnahmen zu finden und durchzuführen und so die völkerrechtlichen Verpflichtungen mit Blick auf den Klimawandel einzuhalten und die derzeitige Menschenrechtsverletzung abzustellen.31
Die Beschwerde der übrigen vier Beschwerdeführerinnen wurde von der Großen Kammer als unzulässig verworfen. Dabei handelte es sich um Frauen, die zwar auch Mitglieder des Vereins waren, jedoch zusätzlich Beschwerde erhoben hatten und eine Verletzung in ihren Individualrechten geltend machten.32
Konkret hatten sie etwa vorgetragen, dass sie ihr Leben an die verstärkt auftretenden Hitzewellen in mehr als erheblicher Weise hätten anpassen müssen.
So sei etwa die zweite Beschwerdeführerin bereits mehrfach aufgrund der Hitze kollabiert und habe unter Gichtanfällen gelitten, die durch die Hitze verstärkt worden seien, insgesamt habe sie während der heißen Tage kaum noch ihre Wohnung verlassen und sei dadurch in ihrem Sozialleben eingeschränkt gewesen.33
Ähnlich trug auch die dritte Beschwerdeführerin vor, dass „zwischen Mai und September das Thermometer ihr Leben und ihre Beziehung zu Familie und Freunden bestimmt habe“.34
Sie legte dem Gerichtshof verschiedene ärztliche Atteste vor, denen zufolge sie in den beiden vorangegangenen Sommern erheblich unter den Hitzewellen gelitten habe und aus denen hervorging, dass der Gesundheitszustand der dritten Beschwerdeführerin und die von ihr eingenommenen Medikamente mit Hitzewellen nicht vereinbar waren. Dass sie sich beispielsweise aufgrund ihrer Herz-Kreislauf-Probleme während Hitzewellen generell geschwächt fühle und nicht in der Lage sei ihre Therapie fortzusetzen und ihren Tagesablauf umstellen müsse. Ein weiteres ärztliches Attest bestätigte, dass die Klägerin während der Hitzewellen körperlich und psychisch leide.35
Die vierte Beschwerdeführerin trug vor, dass sie aufgrund ihres Asthma und ihrer chronisch-obstruktiven Lungenerkrankung während Hitzewellen enorm körperlich, aber auch sozial eingeschränkt sei, auch sie konnte ärztliche Bescheinigungen vorlegen, die die negativen Auswirkungen der Hitze auf den Gesundheitszustand bescheinigten.36
Die fünfte Beschwerdeführerin war an Asthma erkrankt, machte jedoch keine gesundheitlichen Folgen in dieser Hinsicht geltend, sie sei (im Unterschied zu anderen Beschwerdeführerinnen) weder aufgrund der Hitze im Krankenhaus gewesen noch habe sie eine Ärztin im Zusammenhang mit den Hitzewellen aufgesucht, gleichwohl würden „die Hitzewellen ihr alle Energie rauben“.37
Sie könne im Sommer ihr Haus kaum verlassen und etwa schwimmen gehen, für einen Urlaub in einem Hotel mit Schwimmbad fehle ihr das Geld.38
Diese vier Beschwerdeführerinnen waren jedoch nicht in der Lage, die Große Kammer hinreichend davon zu überzeugen, dass sie Opfer einer Menschenrechtsverletzung geworden waren.39
Um eine actio popularis auszuschließen, wurde die Klage daher insoweit als unzulässig abgewiesen.40
Der Gerichtshof hat insoweit klargestellt, dass natürliche Personen im Kontext des Klimawandels dann beschwerdebefugt sind, also geltend machen können, Opfer einer erheblichen Menschenrechtsverletzung i.S.d. Art. 35 Abs. 3 EMRK zu sein, wenn eine
„(a) hohe Intensität der Aussetzung des Antragstellers gegenüber den nachteiligen Auswirkungen des Klimawandels und
(b) ein dringendes Bedürfnis, den individuellen Schutz des Antragstellers zu gewährleisten, besteht.“41
Der Gerichtshof selbst betont, dass die Schwelle für die Annahme des Opferstatus dabei besonders hoch ist42
und von den Beschwerdeführerinnen vorliegend nicht erreicht wurde. Sie hätten zwar überzeugend vorgetragen und mit entsprechenden Nachweisen belegt, dass ältere Frauen von den Folgen des Klimawandels in besonderer Weise betroffen und entsprechend schutzbedürftig seien,43
eine besondere Betroffenheit der Beschwerdeführerinnen im konkreten Fall, aus der sich ein dringendes Bedürfnis zur Gewährleistung von individuellem Schutz ergebe, hätten sie jedoch nicht nachgewiesen. Die Große Kammer stellte insoweit fest:
„Es mag zwar zutreffen, dass die Kläger durch die Hitzewellen in ihrer Lebensqualität beeinträchtigt wurden, doch geht aus den vorliegenden Unterlagen nicht hervor, dass sie den nachteiligen Auswirkungen des Klimawandels in einer Intensität ausgesetzt waren oder zu einem relevanten Zeitpunkt in der Zukunft ausgesetzt zu sein drohten, die ein dringendes Bedürfnis nach individuellem Schutz begründen würde, nicht zuletzt in Anbetracht der hohen Schwelle, die für die Erfüllung der Kriterien gelten muss [...]. Es kann nicht gesagt werden, dass die Kläger an einem kritischen Gesundheitszustand litten, dessen mögliche Verschlimmerung durch die Hitzewellen nicht durch die in der Schweiz verfügbaren Anpassungsmaßnahmen oder durch zumutbare persönliche Anpassungsmaßnahmen in Anbetracht des Ausmaßes der Hitzewellen in diesem Land gelindert werden könnte. Es ist auch darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof die Opfereigenschaft in Bezug auf das künftige Risiko nur ausnahmsweise anerkennt, und die einzelnen Beschwerdeführerinnen nicht nachgewiesen haben, dass in ihrem Fall solche außergewöhnlichen Umstände vorliegen. Schließlich gab die fünfte Beschwerdeführerin eine sehr allgemeine Erklärung ab, in der sie keine besondere Erkrankung oder andere schwerwiegende nachteilige Auswirkungen von Hitzewellen angab, die über die üblichen Auswirkungen hinausgingen, die jede Person, die zur Gruppe der älteren Frauen gehört, erfahren könnte. Außerdem legte sie zwar ein ärztliches Attest vor, aus dem hervorging, dass sie an Asthma litt, erklärte aber in ihrer Erklärung, dass sie noch nie einen Arzt wegen Hitzewellen aufgesucht habe. Es ist daher nicht möglich, einen Zusammenhang zwischen dem Gesundheitszustand der Klägerin und ihren Beschwerden vor dem Gericht herzustellen.“44
C Die Bedeutung des Urteils für die Beschwerdebefugnis nach Art. 34 EMRK
I Die Beschwerdebefugnis von Vereinigungen
Mit dem Urteil hat der Gerichtshof erstmals einer Umweltvereinigung das Recht zugestanden, die Rechte ihrer Mitglieder geltend zu machen.45
Dieser Schritt war nicht nur notwendige Folge der Auslegung der Aarhus Konvention, sondern der Großen Kammer zufolge auch bereits in der vorherigen Rechtsprechung des Gerichtshofs angelegt.46
Die Kammer verweist insoweit etwa auf Rechtsprechung im Zusammenhang mit Vereinigungen, die selbst an den der Beschwerde zugrunde liegenden nationalen Gerichtsverfahren teilgenommen hatten und deshalb im Hinblick auf Art. 6 Abs. 1 EMRK beschwerdebefugt waren,47
und Vereinigungen, die sich auf eigene Rechte beriefen anstelle der Rechte ihrer Mitglieder und jedenfalls dann nicht beschwerdebefugt waren, wenn das betroffene Recht nicht auch von juristischen Personen geltend gemacht werden konnte.48
Die Annahme der Beschwerdebefugnis im Fall der KlimaSeniorinnen, als Vereinigung, die stellvertretend für ihre Mitglieder deren Rechte geltend machen kann, war insoweit eine konsequente Weiterentwicklung der eigenen Rechtsprechung des Gerichtshofes in der Zusammenschau mit der internationalen Rechtsordnung und den sich daraus ergebenden Pflichten der Mitgliedstaaten des Europarates.49
Diese Herangehensweise des Gerichtshofs ist nicht nur auf Zustimmung gestoßen, sondern bereits in der Großen Kammer selbst umstritten: Im Unterschied zur Mehrheit der Kammer ist Richter Eicke der Ansicht, der Gerichtshof gehe zu weit mit seinem Urteil.50
Einer seiner Kritikpunkte in dieser Hinsicht bezieht sich dabei darauf, dass es für die Annahme der Beschwerdebefugnis für den Verein als Vertreter seiner Mitglieder weder ein Bedürfnis noch eine ausreichende Rechtfertigung gegeben habe. Dies begründet Eicke mit drei Argumenten, auf die im Folgenden eingegangen werden soll: Erstens stehe bereits der Wortlaut des Art. 34 EMRK dem entgegen, da dieser explizit verlange, dass die jeweilige Beschwerdeführerin selbst von der geltend gemachten Verletzung betroffen sei.51
Da die Konvention aber als living instrument verstanden wird und einer dynamischen Auslegung unterliegt,52
, Beschw. Nr. 5856/72, Rn. 31, zum Konzept der Konvention als living instrument generell und dessen Grenzen siehe auch: Nussberger, The European Court of Human Rights, Oxford 2020, S. 76ff.] kann ein solches Wortlaut-Argument grundsätzlich nur eingeschränkt, wenn überhaupt überzeugen.
Zweitens, so Eicke, sei es vielmehr Aufgabe des Gesetzgebers bzw. in diesem Falle des Konventionsgebers, nicht aber des Gerichtshofs selbst, ein solches Recht auf Zugang zum Gerichtshof selbst zu schaffen.53
Diesem Vorwurf, der Gerichtshof überschreite mit dem Urteil seine Zuständigkeit und verletze Gewaltenteilungsgrundsätze,54
kann entgegengehalten werden, dass es sich letztlich um typische Rechtsfortbildung handelt,55
deren Ausnahmecharakter vom Gerichtshof mehrfach betont wird.56
Auch das deutsche Zivilprozessrecht kennt die Figur der gewillkürten Prozessstandschaft, in deren Rahmen unter bestimmten Voraussetzungen ein fremdes Recht in eigenem Namen geltend gemacht werden kann, als richterliche Rechtsfortbildung, aber nicht gesetzlich geregelte Form der Prozessstandschaft.57
Während diese Form der Prozessstandschaft sich etwa aus den Besonderheiten von zivilrechtlichen Abtretungskonstellationen ergibt,58
folgt die vom EGMR geschaffene Prozessstandschaft von Vereinigungen für ihre Mitglieder aus den Besonderheiten des Klimawandels,59
wovon auch Richter Eicke grundsätzlich ausgeht.60
Daraus ergeben sich Notwendigkeit und Rechtfertigung für die Schaffung dieses Rechts.
Auch der dritte Einwand von Eicke überzeugt letztlich nicht, wenn er kritisiert, eine Klagebefugnis einer Vereinigung könne nicht unabhängig davon angenommen werden, ob die Mitglieder tatsächlich Opfer im Sinne der Konvention seien oder nicht.61
Denn diesen Weg ist die Große Kammer in ihrer Entscheidung nicht gegangen, sondern hat den Verstoß gegen positive Verpflichtungen angenommen.62 Es ist gerade die im Urteil angesprochene Natur des Klimawandels als concern of humankind, die dazu führt, dass bei einem unzureichenden gesetzlichen Rahmen jedenfalls die Einwohner*innen des jeweiligen Staates in ihren Rechten aus Art. 8 EMRK verletzt sind. Eine Vielzahl an Opfern i.S.d. Art. 34 EMRK macht aus der Beschwerde noch keine actio popularis. Dass der Gerichtshof in dieser Hinsicht weiterhin eine restriktive Haltung einnimmt und nicht ohne weiteres von einer Beschwerdebefugnis ausgehen wird, macht die Große Kammer im Urteil deutlich.63 Eine ausufernde Auslegung der Beschwerdebefugnis ist gerade nicht zu erwarten, wie sich auch im Zusammenhang mit der Beschwerdebefugnis natürlicher Personen im Urteil gezeigt hat.
II Die Beschwerdebefugnis einzelner Personen
Auch die Ablehnung der Beschwerdebefugnis der einzelnen Beschwerdeführerinnen überzeugt letztlich. Es stimmt zwar, wenn Lupin et.al. kritisieren, dass der Gerichtshof sich mit der besonderen Betroffenheit der Beschwerdeführerinnen durch den Klimawandel als Frauen zwar zunächst auseinandersetzt, aber dann nicht den nächsten Schritt geht und rechtliche Folgen aus dieser Betroffenheit etwa in Form besonderer staatlicher Pflichten herleitet.64
Die Frage ist allerdings, ob dies tatsächlich ein Scheitern des Gerichtshofs darstellt, „sich mit dem Geschlecht als einem maßgeblichen Faktor für den Schaden, den die einzelnen Personen erleiden, sinnvoll auseinanderzusetzen.“65
Denn wahr ist auch: die Entscheidung wird die Grundlage künftiger Entscheidungen sein.
Die Ausführungen des Gerichtshofs lassen klar erkennen, dass er sich der besonderen Vulnerabilität von Frauen im Rahmen des Klimawandels bewusst ist. Darauf kann in künftigen Beschwerden aufgebaut werden, wenn es nicht mehr um einen grundsätzlich fehlenden bzw. unzureichenden Rechtsrahmen geht, sondern um einen Rechtsrahmen, der insbesondere Frauen benachteiligt. Im Fall der KlimaSeniorinnen war dies schlicht noch nicht der Fall, die Schweiz hatte generell keinen ausreichenden Rechtsrahmen zum Kampf gegen den Klimawandel geschaffen. Im Ergebnis kam es deshalb auf eine besondere Betroffenheit der einzelnen Beschwerdeführerinnen nicht an.
Die Große Kammer erschwert es Einzelpersonen durch ihre Entscheidung auch nicht unverhältnismäßig, künftig Beschwerde zu erheben, sondern folgt durch die enge Auslegung der Anforderungen letztlich der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs hinsichtlich der Annahme der Opfereigenschaft i.S.d. Art. 34 EMRK.66
Die Annahme der Beschwerdebefugnis von Vereinigungen und Betonung der hohen Anforderungen an die Beschwerdebefugnis von Einzelpersonen dürfte insbesondere auch praktische Gründe gehabt haben: Für den Gerichtshof ist die geringere Anzahl an Beschwerden, wenn sich Beschwerdeführer in entsprechenden Vereinigungen zusammenschließen, einfacher zu bewältigen als eine Vielzahl einzelner Beschwerden.67
Ein überlasteter Gerichtshof nützt niemandem.
Bleibt abzuwarten, wie sich die weitere Rechtsprechung des Gerichtshofs im Zusammenhang mit Klimawandel-Fällen entwickeln wird, ein vielversprechender Anfang68
ist jedenfalls gemacht.
- Verein KlimaSeniorinnen Schweiz und andere gegen die Schweiz (GK), Urteil vom 9. April 2024 (Beschw. Nr. 53600/20) https://hudoc.echr.coe.int/eng#_Toc162522513. ↩
- Entscheidung vom 9. April 2024, Duarte Agostinho und andere gegen Portugal und 32 andere (Beschw. Nr. 39371/20) und Entscheidung vom 9. April 2024, Carême gegen Frankreich (Beschw. Nr. 7189/21). ↩
- Vgl. Pressemitteilungen des Gerichtshofs ECHR 035 (2023) vom 03.02.2023 und ECHR 046 (2023) vom 09.02.2023. ↩
- Duarte Agostinho Fn. (2), Rn. 215-228. ↩
- Carême v France Fn. (2), Rn. 81ff. ↩
- Siehe dazu mit entsprechenden Nachweisen: Jungfleisch, Verein KlimaSeniorinnen Schweiz and Others v. Switzerland – Starting Point for the Future Climate Protection in Europe, Jean Monnet Saar Blog, sowie Giegerich, Jungfleisch, Klimaschutz durch nationale und internationale Verfahren – Strategische Prozessführung im Gemeininteresse der Menschheit, Saar Expert Paper 02/2024, Jean Monnet Saar Blog. ↩
- Verein KlimaSeniorinnen und andere gegen die Schweiz, Fn. (1), Rn. 573. ↩
- Ibid., Rn. 10 (eigene Übersetzung). ↩
- Ibid., Rn. 521-526. ↩
- Ibid., Rn. 502. ↩
- Vgl. in dieser Hinsicht etwa: Pedersen, Climate Change hearings and the ECtHR, EJIL:Talk! vom 04.04.2023. ↩
- UNECE Convention on Access to Information, Public Participation in Decision-making and Access to Justice in Environmental Matters (Aarhus Convention), UNTS, vol. 2161, p. 447. ↩
- Verein KlimaSeniorinnen und andere gegen die Schweiz, Fn. (1), Rn. 489. ↩
- Ibid., Rn. 489. ↩
- Ibid., Rn. 490 unter Bezugnahme auf Art. 2 und 9 der Aarhus Konvention. ↩
- Liechtenstein und Monaco haben die Konvention nicht ratifiziert, der aktuelle Ratifizierungsstatus der Konvention findet sich unter https://treaties.un.org/Pages/ViewDetails.aspx?src=IND&mtdsg_no=XXVII-13&chapter=27&clang=_en. ↩
- Verein KlimaSeniorinnen und andere gegen die Schweiz, Fn. (1), Rn. 494. ↩
- Ibid., Rn. 494. ↩
- Ibid., Rn. 498f. ↩
- Ibid., Rn. 523. ↩
- Vgl. den Tenor, ibid., Rn. 657. ↩
- Eine Verletzung von Art. 2 prüft der Gerichthof nicht, verweist in seinen Ausführungen zu den aus Art. 8 EMRK folgenden Pflichten jedoch auch auf die im Rahmen von Art. 2 EMRK entwickelten Grundsätze, Verein KlimaSeniorinnen und andere gegen die Schweiz, Fn. (1), Rn. 536f. ↩
- Ibid., Rn. 546. ↩
- Ibid., Rn. 558f. ↩
- Ibid., Rn. 560ff. ↩
- Ibid., Rn. 564. ↩
- Ibid., Rn. 566. ↩
- Ibid., Rn. 573. ↩
- Ibid., Rn. 630; 636f. ↩
- Ibid. ↩
- Verein KlimaSeniorinnen und andere gegen die Schweiz, Fn. (1), Rn. 657. Das Gericht verpflichtete die Schweiz, dem Verein 80.000 Euro für Kosten und Auslagen zu erstatten. Ein Schadensersatz war nicht gefordert worden. ↩
- Ibid., Rn. 12; eine der vier Frauen (die zweite Beschwerdeführerin) starb während des Verfahrens vor dem Gerichtshof, vgl. Rn. 12, 273. ↩
- Ibid., Rn. 13f. ↩
- Ibid., Rn. 15. ↩
- Ibid., Rn. 16f. ↩
- Ibid., Rn. 18f. ↩
- Verein KlimaSeniorinnen und andere gegen die Schweiz, Fn. (1), Rn. 20. ↩
- Ibid., Rn. 20. ↩
- Ibid., Rn. 533ff. ↩
- Ibid., Rn. 460, 481ff. ↩
- Ibid., Rn. 527. ↩
- Ibid., Rn. 488. ↩
- Ibid., Rn. 529f. m.w.N. ↩
- Verein KlimaSeniorinnen und andere gegen die Schweiz, Fn. (1), Rn. 533f. ↩
- Arntz, Krommendijk, Historic and unprecedented – Climate Justice in Strasbourg, Verfassungsblog 09.04.2024. ↩
- Verein KlimaSeniorinnen und andere gegen die Schweiz, Fn. (1), Rn. 489ff. ↩
- Gorraiz Lizarraga und andere gegen Spanien, Beschw. Nr. 62543/00, Rn. 38; wobei im Fall Collectif national d’information et d’opposition à l’usine Melox – Collectif Stop Melox et Mox gegen Frankreich, Beschw. Nr. 75218/01, die Beschwerde jedoch unbegründet und Art. 6 EMRK gewahrt worden war. In Yusufeli İlçesini Güzelleştirme Yaşatma Kültür Varlıklarını Koruma Derneği gegen die Türkei, Beschw. Nr. 37857/14, Rn. 43 betonte der Gerichtshof erneut, dass eine Beschwerde der Vereinigung aufgrund von Verfahrensmängeln hätte erfolgreich sein können. ↩
- Asselbourg und andere gegen Luxemburg, (Entsch.) Beschw. Nr. 29121/95. ↩
- So auch: Arntz, Krommendijk, Fn. 45. ↩
- Verein KlimaSeniorinnen und andere gegen die Schweiz, Fn. (1), S. 233ff. Dissenting Opinion Richter Eicke, Rn. 68ff. (Dissenting Opinion). ↩
- Dissenting Opinion, Fn. 50, Rn. 44. ↩
- Tyrer gg. das Vereinigte Königreich, [GK ↩
- Dissenting Opinion, Fn. 50, Rn. 44. ↩
- Insbesondere in der Schweiz wird diese Kritk gegen das Urteil angebracht, vgl. dazu die von Blattner zitierten Zeitungen, Blattner, Separation of Powers and KlimaSeniorinnen, Verfassungsblog 30.04.2024. ↩
- Blattner (Fn. 54) charakterisiert das Urteil insoweit als „integral part of democratic governance“; vgl. auch Sicilianos, Deftou, Breaking New Ground: Climate Change before the Strasbourg Court, EJIL:Talk! vom 12.04.2024, die von einer „balanced position“ des Gerichtshofs ausgehen. ↩
- Verein KlimaSeniorinnen und andere gegen die Schweiz, Fn. (1), Rn. 412 und 420. ↩
- MüKoBGB/Bayreuther, 9. Aufl. 2021, BGB § 185 Rn. 41. ↩
- Weitere Beispiele zulässiger gewillkürter Prozessstandschaft finden sich bei BeckOK ZPO/Hübsch/Kersting, 52. Ed. 1.3.2024, ZPO § 51 Rn. 54. ↩
- Verein KlimaSeniorinnen und andere gegen die Schweiz, Fn. (1), Rn. 420. ↩
- Ansätze in diese Richtung können in der Dissenting Opinion, Fn. 50, Rn. 39f., 42 erkannt werden. ↩
- Dissenting Opinion, Fn. 50, Rn. 44. ↩
- Verein KlimaSeniorinnen und andere gegen die Schweiz, Fn. (1), Rn. 573f. ↩
- Verein KlimaSeniorinnen und andere gegen die Schweiz, Fn. (1), Rn. 473ff., 500ff. ↩
- Lupin, Tigre, Gutiérrez, KlimaSeniorinnen and Gender, Verfassungsblog 09.05.2024; zum Potential der Beschwerde im Hinblick auf ihre Intersektionalität vgl. Sußner, Intersectionality in Climate Litigation – The Case of KlimaSeniorinnen v Switzerland at the ECtHR, Verfassungsblog 20.04.2023. ↩
- So der Vorwurf von Lupin, Tigre, Gutiérrez, (Fn. 51) (eigene Übersetzung). ↩
- M.w.N. Verein KlimaSeniorinnen und andere gegen die Schweiz, Fn. (1), Rn. 465ff. ↩
- Vgl. auch: Arntz, Krommendijk, Historic and unprecedented –Climate Justice in Strasbourg, Verfassungsblog 09.04.2024. ↩
- So auch: Sicilianos, Deftou Fn. 55. ↩