STREIT 3/2021
S. 111-114
LG Hamburg, §§ 823 Abs. 1, 1004 Abs. 1 S. 2 BGB, Art. 1 Abs. 1 GG, Art. 2 Abs. 1 GG, Art. 5 Abs. 1 GG
Vergleich von Abtreibungen mit NS-Morden: Anspruch auf Unterlassung und Schadensersatz
1. Die Veröffentlichungen von Äußerungen und Bildmaterial, in denen Schwangerschaftsabbrüche mit dem Holocaust verglichen werden und in denen auf die Klägerin Bezug genommen wird, verletzen die Klägerin in ihrem allgemeinen Persönlichkeitsrecht, da sie die Klägerin im Bereich ihrer beruflichen Betätigung als Ärztin, die Schwangerschaftsabbrüche durchführt, berühren.
2. Die Gleichsetzung der Abtreibungstätigkeit einer Ärztin mit der auf der Rassentheorie fußenden Ermordung unzähliger Menschen im Nationalsozialismus stellt einen erheblichen Eingriff in das die Sozialsphäre betreffende Persönlichkeitsrecht dar und muss nicht hingenommen werden.
3. Die eingetretene schwere Verletzung des Persönlichkeitsrechts der Ärztin lässt sich nur durch die Zahlung eines immateriellen Schadensersatzes ausgleichen, da die Durchsetzung von Ansprüchen auf Gegendarstellung oder Berichtigung der Klägerin nicht zumutbar ist.
(Leitsätze der Redaktion)
Urteil des LG Hamburg vom 15.01.2021– 324 O 290/19, Berufung anhängig, Hanseatisches OLG Hamburg, 7 U 14/21
Zum Sachverhalt:
[...] Die Klägerin nimmt den Beklagten auf Unterlassung von Äußerungen und eines Lichtbildes, Zahlung einer Geldentschädigung sowie Erstattung außergerichtlicher Rechtsanwaltskosten in Anspruch.
Die Klägerin ist Fachärztin für Allgemeinmedizin, die in ihrer Praxis auch Schwangerschaftsabbrüche anbietet. Sie ist bundesweit bekannt, nachdem sie wegen des Vorwurfs der strafbaren Werbung für Schwangerschaftsabbrüche (§ 219a StGB) angeklagt und 2017 erstinstanzlich verurteilt wurde. Für ihre Beteiligung an dem politischen Kampf für eine Abschaffung des § 219a StGB wurde sie vielfach ausgezeichnet und veröffentlichte ein Buch hierzu. Darüber hinaus ist sie Mitglied der Musikgruppe „K.‘s D.“, in der sie Akkordeon spielt und singt. Die Gruppe spielt jiddische Lieder und erinnert mit ihren Konzerten auch an die Opfer der Shoah.
Der Beklagte ist ein Abtreibungsgegner und verantwortet die Internetseite b..de (Anlage K 1). Er vergleicht den Schwangerschaftsabbruch mit dem Holocaust und bezeichnet ihn deshalb als B.. Das Landgericht Karlsruhe verbot dem Beklagten, Abtreibungen als Mord zu bezeichnen und mit dem Holocaust zu vergleichen. Seine hiergegen gerichtete Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte blieb erfolglos (EGMR, Urteil vom 20.09.2018 – 70693/11).
Auf der Internetseite des Beklagten wurden drei Beiträge, die die streitgegenständlichen Äußerungen und das streitgegenständliche Lichtbild enthalten [...] veröffentlicht. [...] Ein Beitrag wurde unter der Überschrift „74 Jahre nach Auschwitz + Mauthausen ... kommt es noch schlimmer?“ unter der URL www.b..de/... veröffentlicht. In dem Beitrag wird auf die Auszeichnung der Klägerin sowie eines anderen Arztes, der Schwangerschaftsabbrüche durchführt, durch die Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokratischer Frauen (ASF) der SPD Ostallgäu reagiert. Die Äußerung, die Klägerin sei eine „Entartete“, bezieht sich auf die Äußerung „Die Welt der Entarteten“ auf der Seite 22 des Beitrages. Darüber hinaus ist in diesem Beitrag das sich aus dem Antrag in Ziffer 1 genannte Lichtbild enthalten. [...]
Ein weiterer Beitrag wurde auf der Internetseite des Beklagten mit der Überschrift „Menschenrechte für ALLE?“, unter der URL www.b..de/... veröffentlicht […]. In diesem Beitrag werden sogenannte „Lebensschützer“ dazu aufgerufen, Veranstaltungen der Klägerin zu besuchen, damit jene „nicht ohne Widerspruch geschehen“. Die streitgegenständliche Äußerung, die Klägerin stoße das Tor zu Ausschwitz weit auf, bezieht sich auf die Äußerung auf der Seite 20 des Beitrages „Das Tor von Ausschwitz wird von vielen unserer heutigen Mediziner wieder weit aufgestoßen“. [...]
Schließlich wurde ein Beitrag mit der Überschrift „Menschenrechte für ALLE? – Wenn Menschen sich über GOTT erheben wollen –“, unter der URL www.b..de/... auf der Internetseite des Beklagten veröffentlicht. In diesem Beitrag sind Ausführungen zu der Mitteilung der Klägerin, wonach sie viele Presseanfragen erhalte und zwischen zwei Abbrüchen ein Interview gegeben habe, enthalten. In dem Beitrag wird die Band „K.‘s D.“ erwähnt. Anschließend ist ein Bild von KZ-Aufseher/innen bzw. -Mediziner/innen abgebildet, von denen einer ein Akkordeon in den Händen hält. Hierauf bezieht sich das im Antrag in Ziffer 1 genannte Lichtbild. [...]
Die Klägerin mahnte den Beklagten mit anwaltlichem Schreiben vom 11.06.2019 ab und verlangte die Abgabe einer strafbewehrten Unterlassungserklärung wegen der streitgegenständlichen Äußerungen mit Ausnahme der Äußerung, die Klägerin sei eine „Entartete“ (Anlage K 3). [...]
Nachdem der Beklagte zur mündlichen Verhandlung nicht erschienen ist, hat das Gericht auf Antrag der Klägerin am 24.08.2020 ein Versäumnisurteil gegen den Beklagten erlassen, mit dem der Beklagte antragsgemäß wie folgt verurteilt wurde:
I. Der Beklagte wird verurteilt, es zu unterlassen, öffentlich mit Bezug auf die Klägerin zu behaupten und/oder zu verbreiten, die Klägerin stoße das Tor zu Auschwitz weit auf, die Klägerin sei eine „Entartete“ und/oder die Klägerin mit in den KZs im historischen Nationalsozialismus eingesetzten Wachmannschaften und/oder Mediziner/innen zu vergleichen, insbesondere unter Verwendung des folgenden Lichtbildes [...]. Der Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin eine Geldentschädigung in Höhe von 6.000 Euro zu zahlen. [...]
Der Beklagte meint, dass keine Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts der Klägerin vorliege. Der Klägerin sei als öffentlich bekannte Frauenärztin und auch politisch motivierte Abtreibungsaktivistin die streitgegenständliche Kritik zuzumuten. […] Der Beklagte ist der Auffassung, dass er durch seine Äußerungen die gewerbliche Abtreibungstätigkeit der Klägerin und die öffentliche Lobbyarbeit für die Abtreibungslobby durch die Klägerin ans Tageslicht bringe. Im Kern seines Anliegens trete der Beklagte für das Lebensrecht der ungeborenen Kinder ein.
Aus den Gründen:
[…] Die Klage ist zulässig (I.) und begründet. Der Klägerin stehen die geltend gemachten Unterlassungsansprüche zu (II.). Die Klägerin hat auch einen Anspruch auf Geldentschädigung (III.) und auf Zahlung der vorgerichtlichen Rechtsverfolgungskosten (IV.) jeweils im tenorierten Umfang. […]
II. […]
2. Die gegenständlichen Äußerungen des Beklagten und der Vergleich der Klägerin mit dem streitgegenständlichen Lichtbild greifen in das allgemeine Persönlichkeitsrecht der Klägerin ein, da sie die Klägerin im Bereich ihrer beruflichen Betätigung als Ärztin, die Schwangerschaftsabbrüche durchführt, berühren. Sie ist somit in ihrer Sozialsphäre und damit in einem Teil ihres Persönlichkeitsrechts betroffen.
3. Der Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht ist jeweils auch rechtswidrig. Bei dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht handelt sich um einen offenen Tatbestand, bei dem die Feststellung einer rechtswidrigen Verletzung grundsätzlich eine ordnungsgemäße Abwägung aller Umstände des konkreten Einzelfalles und Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit voraussetzt (Palandt/Sprau, BGB, 79. Aufl. 2020, § 823 Rn. 95).
a. Einer Abwägung im Einzelfall bedarf es jedoch nicht, wenn es sich bei einer Äußerung um Schmähkritik handelt. In diesem Fall tritt die Meinungsfreiheit von vornherein zurück. Deshalb sind hinsichtlich des Vorliegens von Schmähkritik strenge Maßstäbe anzuwenden. Danach macht eine überzogene oder ausfällige Kritik eine Äußerung für sich genommen noch nicht zur Schmähung. Hinzutreten muss vielmehr, dass bei der Äußerung nicht mehr die Auseinandersetzung in der Sache, sondern die Diffamierung der Person im Vordergrund steht. Sie muss jenseits auch polemischer und überspitzter Kritik in der persönlichen Herabsetzung bestehen. Wesentliches Merkmal der Schmähung ist mithin eine das sachliche Anliegen völlig in den Hintergrund drängende persönliche Kränkung. Nur dann kann im Sinne einer Regelvermutung ausnahmsweise auf eine Abwägung unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls verzichtet werden. Aus diesem Grund wird Schmähkritik bei Äußerungen in einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage nur ausnahmsweise vorliegen (BVerfG, Beschluss v. 28.07.2014 – 1 BvR 482/13; BVerfG, Beschluss v. 14.06.2019 – 1 BvR 2433/17).
Angesichts dieses strengen Maßstabes neigt die Kammer der Ansicht zu, dass es sich bei den streitgegenständlichen Äußerungen und dem Vergleich der Klägerin mit dem streitgegenständlichen Lichtbild um keine Schmähkritik handelt. Die gegenständlichen Äußerungen und das streitgegenständliche Lichtbild sind durch die Gleichsetzung, den Vergleich oder auch nur durch die dargestellte Nähe der von der Klägerin durchgeführten Schwangerschaftsabbrüche mit dem nationalsozialistischen Holocaust geeignet, das Ansehen der Klägerin zu beeinträchtigen. Dennoch steht der damit verbundene Vorwurf in der Sache ersichtlich in unmittelbarem und untrennbarem Zusammenhang mit dem tatsächlichen Anliegen des Beklagten, nämlich der Auseinandersetzung mit der herrschenden Abtreibungspraxis. Ob es sich um Schmähkritik handelt, kann indes offen bleiben, da jedenfalls die geschützten Interessen der Klägerin im Rahmen der Abwägung überwiegen (hierzu s.u.).
b. Der Eingriff in das Persönlichkeitsrecht ist nur dann rechtswidrig, wenn das Schutzinteresse des Betroffenen die schutzwürdigen Belange der anderen Seite überwiegt. Im Streitfall hat eine Abwägung zwischen dem Recht der Klägerin auf Schutz ihres allgemeinen Persönlichkeitsrechts nach Art. 2 Abs. 1, Art. 1 Abs. 1 GG auf der einen Seite und der nach Art. 5 Abs. 1 GG geschützten Meinungsfreiheit des Beklagten auf der anderen Seite zu erfolgen.
Soweit es sich um Tatsachenbehauptungen handelt, kann im Rahmen der Abwägung insbesondere eine etwaige Unwahrheit der behaupteten Tatsache zur Rechtswidrigkeit ihrer Verbreitung führen. An der Verbreitung unwahrer Tatsachenbehauptungen besteht schon im Grundsatz kein überwiegendes öffentliches Interesse, da diese keine geeignete Grundlage für den durch Art. 5 Abs. 1 GG geschützten öffentlichen Meinungsbildungsprozess bilden können (vgl. BVerfG, NJW-RR 2010, 470, Rn. 58 ff.). Soweit es sich um Meinungsäußerungen handelt, ist im Rahmen der Abwägung der widerstreitenden Interessen maßgeblich zu berücksichtigen, dass diese zwar grundsätzlich einen weiten Schutz genießen. Jedoch kann auch insoweit das Fehlen tatsächlicher Bezugspunkte, auf die sich eine Meinungsäußerung stützt, ein maßgebliches Indiz dafür darstellen, dass eine Äußerung auch dann nicht mehr zu rechtfertigen ist, wenn es sich nicht um Schmähkritik handelt (vgl. BVerfG NJW 2012, 1643 – Grüne Gentechnik). Und in der Wirkung derselbe Effekt ergibt sich, wenn sich herausstellt, dass die Tatsachenbehauptungen, auf die sich eine Meinungsäußerung stützt, unwahr sind (vgl. BVerfG, a.a.O.). Daher verlangt die Rechtsprechung im Prozess die Offenbarung und gegebenenfalls den Nachweis der Richtigkeit der tatsächlichen Bezugspunkte der umstrittenen Äußerung (EGMR, AfP 2014, 430; Soehring/Hoene, Presserecht, 6. Aufl., § 20 Rn. 20.20).
Nach den dargelegten Maßstäben überwiegen vorliegend die geschützten Interessen der Klägerin, selbst wenn es sich um Meinungsäußerungen handelt. Zu den Äußerungen im Einzelnen:
aa. Die Klägerin ist von der Äußerung, wonach sie das Tor zu Ausschwitz weit aufstoße, betroffen. Zwar lautet die konkrete Äußerung im Beitrag „Das Tor von Ausschwitz wird von vielen unserer heutigen Mediziner wieder weit aufgestoßen“. Eine namentliche Nennung der Klägerin erfolgt in diesem Satz nicht. Jedoch befasst sich der Beitrag zuvor mit der Auszeichnung der Klägerin mit dem Emotion-Award. Anschließend heißt es unter „Das Besondere an Frau Tötungsspezialistin K. H.“, dass sie die „Kunst des Tötens“ in Holland erlernt habe und ihrerseits viele Medizinstudenten in die „Kunst des Tötens“ einweisen möchte. Unmittelbar nach diesen Ausführungen erfolgt sodann der streitgegenständliche Satz „Das Tor von Ausschwitz wird von vielen unserer heutigen Mediziner wieder weit aufgestoßen“. Entgegen der Ansicht des Beklagten führt eine fehlende namentliche Nennung nicht dazu, dass eine nicht individualisierbare und abgrenzbare Vielzahl von Personen angesprochen wird. Vielmehr bezieht der Leser den Satz aufgrund der zuvor erfolgten Ausführungen jedenfalls auch auf die Klägerin. […]
Im Rahmen der vorzunehmenden Abwägung überwiegt das Persönlichkeitsrecht der Klägerin. Soweit sich der Beklagte auf seine Meinungsfreiheit beruft, macht er grundsätzlich ein gegenüber dem Persönlichkeitsrecht der Klägerin gleichrangiges Grundrecht geltend. Deshalb ist er grundsätzlich berechtigt, öffentlich Abtreibungen und damit die Tätigkeit der Klägerin als Abtreibungsmedizinerin zu kritisieren. Bei der Frage, ob, unabhängig von der aktuellen gesetzlichen Regelung, Abtreibungen zulässig sind bzw. vorgenommen werden sollen, handelt es sich zudem um ein die Öffentlichkeit berührendes Thema. Darüber hinaus ist die Sozialsphäre der Klägerin betroffen, da sie die Schwangerschaftsabbrüche im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit vornimmt. Ihre Abtreibungstätigkeit hat auch einen Bezug zur Öffentlichkeit. Insbesondere auch unter Berücksichtigung ihrer bundesweiten Bekanntheit, nachdem sie wegen des Vorwurfs der strafbaren Werbung für Schwangerschaftsabbrüche (§ 219a StGB) angeklagt und erstinstanzlich verurteilt wurde.
Vorliegend ist der Eingriff in das Persönlichkeitsrecht der Klägerin jedoch zu gewichtig. Die Verhältnismäßigkeit zwischen den Äußerungen des Beklagten und der Intensität des Eingriffs in die Klägerrechte sind nicht gewahrt. Der Beklagte greift ganz erheblich in das die Sozialsphäre betreffende Persönlichkeitsrecht der Klägerin ein, weil die Abtreibungstätigkeit der Klägerin mit der auf der Rassentheorie fußenden Ermordung unzähliger Menschen im Nationalsozialismus gleichgesetzt wird. Dabei ist insbesondere zu berücksichtigen, dass die Äußerung nicht vom historischen und sozialen Zusammenhang losgelöst werden kann und die Gleichsetzung mit dem Holocaust im speziellen Zusammenhang der deutschen Vergangenheit betrachtet werden muss (vgl. EGMR, Urteil vom 20.09.2018 – 70693/11; EGMR, Urteil vom 08.01.2019 – 64496/17). Die Schreckensherrschaft der Nationalsozialisten hat Deutschland unmittelbar erlebt. Im Lichte der historischen Erfahrungen stellen die massenhaften Gräueltaten ein besonders sensibles Thema in Deutschland dar. Unter Berücksichtigung dessen ist die Gleichsetzung von durchgeführten Abtreibungen mit den durch nichts zu rechtfertigenden Taten, die im Dritten Reich gegen Juden verübt worden sind, äußerst schwerwiegend. Dabei fällt auch ins Gewicht, dass sich die Klägerin in Hinblick auf die durchgeführten Abtreibungen rechtmäßig verhält und nicht gegen die geltende Rechtsordnung verstößt. Schließlich hat der Beklagte durch die konkrete Nennung des Namens der Klägerin eine Prangerwirkung erzeugt und den Ruf der Klägerin in schwerwiegender Weise geschädigt.
bb. Die Klägerin ist von der weiteren Äußerung, wonach sie eine „Entartete“ sei, ebenfalls betroffen. Eine namentliche Nennung der Klägerin in der konkreten Äußerung erfolgt zwar auch hier nicht. Vielmehr heißt es „Die Verrückte Welt der Entarteten!“. Jedoch befasst sich auch dieser Beitrag zuvor mit der Klägerin, und zwar mit ihrer Teilnahme an einer Podiumsdiskussion an den Münchener Kammerspielen sowie ihrer Abtreibungstätigkeit. Unmittelbar nach den Ausführungen folgt dann der Satz „Die Verrückte Welt der Entarteten!“. Daher bezieht der Leser die Äußerung auf die Klägerin im Hinblick auf ihre Abtreibungstätigkeit.
Der Begriff „Entartete“ wurde im Nationalsozialismus vorrangig für die Bezeichnung von moderner Kunst verwandt. Die Künstler dieser Art von Kunst galten als geisteskrank und standen außerhalb der Gemeinschaft der „Volksgesunden“. Diese Künstler wurden verfolgt und ermordet. Der Klägerin wird mit diesem Begriff daher das Recht, wie jeder andere zu leben bzw. betrachtet zu werden, abgesprochen. Die Äußerung, die Klägerin sei eine Entartete, hat die Klägerin ebenfalls nicht hinzunehmen. Ihre rechtmäßig durchgeführte Abtreibungstätigkeit rechtfertigt nicht, sie als außerhalb der Gemeinschaft stehend betrachtete und verfolgte Person zu bezeichnen und ihr das Lebensrecht abzusprechen.
cc. Durch das streitgegenständliche Lichtbild vergleicht der Beklagte die Klägerin mit den im Nationalsozialismus eingesetzten Wachmannschaften und Medizinern. Der Vergleich mit der Klägerin ergibt sich aus dem vor dem Lichtbild stehenden Text, in welchem die Musikgruppe der Klägerin „K.‘s D.“ namentlich genannt wird. Zudem hält einer der KZ-Aufseher bzw. -Mediziner ein Akkordeon in den Händen, was die Gemeinsamkeit zwischen „K.‘s D.“, in der die Klägerin ein Akkordeon spielt, und den abgebildeten Wachmannschaften und Medizinern aufweisen soll.
Durch den Vergleich wird die Klägerin mit Personen gleichgestellt, die in Konzentrationslagern Menschen unter schrecklichsten Bedingungen interniert und getötet haben. Es wird damit ein menschunwürdiges Menschenbild verbunden. Auch dies muss die Klägerin nicht hinnehmen. […]
4. Bezüglich der untersagten Äußerungen und dem Vergleich mit dem streitgegenständlichen Lichtbild besteht auch die für den Unterlassungsanspruch erforderliche Wiederholungsgefahr. Die Wiederholungsgefahr wird durch die Erstbegehung indiziert. Es wurde keine strafbewehrte Unterlassungsverpflichtungserklärung abgegeben, die einstweilige Verfügung der Kammer wurde nicht als endgültige Regelung anerkannt, und auch sonst sind keine Umstände ersichtlich, die eine Wiederholungsgefahr entfallen lassen könnten.
III. Der Klägerin steht der geltend gemachte Anspruch auf Zahlung einer Geldentschädigung aus § 823 Abs. 1 BGB i. V. m. Art. 2 Abs. 1, 1 Abs. 1 GG in der tenorierten Höhe zu. Nach ständiger Rechtsprechung setzt ein Geldentschädigungsanspruch gem. § 823 Abs. 1 BGB i. V. m. Art. 2 Abs. 1, 1 Abs. 1 GG voraus, dass eine schwere Persönlichkeitsrechtsverletzung und schuldhaftes Handeln des Verletzers vorliegen sowie, dass andere Ausgleichsmöglichkeiten fehlen und ein unabwendbares Bedürfnis für eine Geldentschädigung besteht (vgl. Soehring/Hoene, Presserecht 6. Aufl., § 32 Rn. 32.33 ff.). Diese Voraussetzungen liegen hier jeweils vor. […]
Den Beklagten trifft ein schweres Verschulden. Ihm war zumindest aus dem Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (70693/11) bekannt, dass zulässige Abtreibungen nicht mit dem Holocaust verglichen werden dürfen. Trotz diverser gerichtlicher Entscheidungen hat er sich nicht davon abbringen lassen, die gegenständlichen Äußerungen unbeirrbar und mit Nachdruck zu verbreiten.
Die eingetretene schwere Verletzung des Persönlichkeitsrechts der Klägerin lässt sich nicht in anderer Weise als durch die Zahlung eines immateriellen Schadensersatzes ausgleichen. Die Durchsetzung von Ansprüchen auf Gegendarstellung oder Berichtigung ist der Klägerin nicht zumutbar. […]
Hinweise der Redaktion:
Aus dem oben in Bezug genommenen
Urteil des EGMR – Annen/Deutschland (Nr. 2)
vom 20.09.2018, – 3682/10 – Rdnr. 34:
Abtreibung ist kein Mord
„Was die Tatsachengrundlage der Äußerungen des Beschwerdeführers angeht, stellt der Gerichtshof fest, dass der Beschwerdeführer weder vor den innerstaatlichen Gerichten noch vor dem Gerichtshof geltend gemacht hat, dass die von Dr. X. vorgenommenen Abtreibungen Mord im rechtlichen Sinne des § 211 StGB darstellten. Der Gerichtshof kommt daher zu dem Ergebnis, dass es keinerlei Tatsachengrundlage für die Behauptung gab, dass Dr. X. den Straftatbestand des Mordes verwirklicht habe. Ferner möchte der Gerichtshof hinzufügen, dass auch eine Äußerung, die ein Werturteil darstellt, einer hinreichenden Tatsachengrundlage bedarf; anderenfalls ist sie überzogen (siehe Jerusalem/Österreich, Individualbeschwerde Nr. 26958/95, Rdnr. 43, ECHR 2001-II). Folglich befindet der Gerichtshof, dass es selbst unter der Annahme, dass die Äußerungen des Beschwerdeführers als Werturteile anzusehen wären, keine hinreichende Tatsachengrundlage dafür gäbe, Abtreibungen, wie sie von Dr. X. vorgenommen werden, als „Mord“ zu bezeichnen. In diesem Zusammenhang merkt der Gerichtshof auch an, dass die Vorwürfe nicht nur sehr schwerwiegend waren, was sich daran zeigt, dass eine Verurteilung wegen Mordes mit lebenslanger Freiheitsstrafe bedroht ist, sondern sie auch zu Hass und Aggression anstiften könnten.“
Vergleiche auch die Urteile des EGMR vom gleichen Tag: Annen/Deutschland (Nr. 5) – 70693/11 – und Annen/Deutschland (Nr. 4) – 9765/10, STREIT 1/2019, S. 41 f.
Zum Strafverfahren gegen Kristina Hänel wegen eines Verstoßes gegen § 119a StGB vor dem AG Gießen siehe: Ulrike Lembke, Informationen über Schwangerschaftsabbrüche als kriminelle Handlung? – Reflektionen nach einer Prozessbeobachtung, STREIT 4/2017, S. 147 ff.