STREIT 4/2020
S. 162-163
EGMR, Art. 3, 8 EMRK
Verpflichtung zur effektiven Untersuchung häuslicher Gewalt, hier: Cyberbullying
Art. 3 und Art. 8 EMRK: Positive Verpflichtung zu einer effektiven Untersuchung: Versäumnis der Behörden, eine strafrechtliche Untersuchung aus dem Blickwinkel häuslicher Gewalt zu behandeln, und das Versäumnis der Gerichte, die Begründetheit einer Klage wegen Cybermobbing zu prüfen, die eng mit einer Klage wegen häuslicher Gewalt verbunden ist, stellt eine Verletzung der Rechte aus Art. 3 und 8 der EMRK dar.
Urteil des EGMR vom 11.02.2020 – 56867/15, Buturugă gegen Rumänien
Tatbestand – die Fakten:
Unter Berufung auf ein gerichtsmedizinisches Gutachten meldete die Klägerin das gewalttätige Verhalten ihres ehemaligen Ehemannes bei den Behörden. Sie beantragte eine elektronische Durchsuchung des Familiencomputers, der als Beweismittel für das Strafverfahren verwendet werden sollte, und behauptete, dass ihr ehemaliger Ehemann ihre elektronischen Konten, einschließlich ihres Facebook-Kontos, unerlaubt durchsucht und Kopien ihrer privaten Gespräche, Dokumente und Fotos angefertigt habe.
Dieser Antrag wurde mit der Begründung abgelehnt, dass jegliche Beweise, die auf diese Weise gesammelt werden könnten, in keinem Zusammenhang mit den angeblichen Drohungen und Gewalttaten ihres ehemaligen Ehemannes stünden. In der Folge reichte die Klägerin eine weitere Beschwerde gegen ihren ehemaligen Ehemann wegen Verletzung der Vertraulichkeit ihrer Korrespondenz ein, die als verspätet zurückgewiesen wurde. Die Staatsanwaltschaft verhängte gegen ihren ehemaligen Ehemann eine Geldbuße und stellte das Verfahren ein, wobei sie sich auf die Bestimmungen des Strafgesetzbuches stützte, die Gewalt zwischen Privatpersonen regeln, und nicht auf diejenigen, die häusliche Gewalt betreffen.
Das erstinstanzliche Gericht bestätigte die Schlussfolgerungen der Staatsanwaltschaft, dass die Drohungen gegen die Klägerin nicht schwerwiegend genug gewesen seien, um als Straftaten eingestuft zu werden, und dass keine direkten Beweise dafür vorgelegt worden seien, dass die vorgetragenen Verletzungen der Klägerin von ihrem ehemaligen Ehemann verursacht worden seien. Hinsichtlich der angeblichen Verletzung des Briefgeheimnisses entschied das Gericht, dass diese Angelegenheit in keinem Zusammenhang mit dem Gegenstand des Falles stehe und dass die in den sozialen Netzwerken veröffentlichten Daten öffentlich seien.
Recht – Artikel 3 und 8 EMRK:
(a) Die Untersuchung der Misshandlung
Die Behörden gingen auf die beanstandeten Tatsachen nicht aus dem Blickwinkel der häuslichen Gewalt ein. Tatsächlich berücksichtigte die Untersuchung nicht die spezifischen Merkmale häuslicher Gewalt, wie sie in der Konvention des Europarates zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt anerkannt sind. Der Gerichtshof war nicht davon überzeugt, dass die Feststellungen des Familiengerichts im vorliegenden Fall eine hinreichend abschreckende Wirkung gehabt hätten, um das schwerwiegende Problem der häuslichen Gewalt zu verhindern. Darüber hinaus habe zwar keine der örtlichen Behörden die Realität und Schwere der Verletzungen der Klägerin bestritten, doch seien aus der Untersuchung keine Beweise hervorgegangen, die die verantwortliche Person identifizieren könnten. Die ermittelnden Behörden hatten sich daher darauf beschränkt, die Angehörigen der Klägerin als Zeugen zu befragen, und es versäumt, andere Arten von Beweisen zu sammeln, um den Ursprung der Verletzungen der Klägerin und möglicherweise die Verantwortlichen für deren Zufügung zu ermitteln. In einem Fall, in dem es um behauptete Akte häuslicher Gewalt ging, hätten die Ermittlungsbehörden die erforderlichen Maßnahmen ergreifen müssen, um die Umstände des Falles aufzuklären. Der vom beklagten Staat geschaffene Rechtsrahmen hätte der Klägerin zwar einen gewissen Schutz gewährt, er sei aber erst nach den angefochtenen Gewalttaten in Kraft getreten und habe die Unzulänglichkeiten der Untersuchung nicht revidiert.
(b) Die Untersuchung der Verletzung des Briefgeheimnisses der Klägerin
Sowohl im innerstaatlichen Recht als auch im Völkerrecht ist das Phänomen der häuslichen Gewalt nicht auf physische Gewalt beschränkt, sondern schließt auch psychische Gewalt oder Belästigung ein. Darüber hinaus wird Cyberbullying inzwischen als eine Form der Gewalt gegen Frauen und Mädchen anerkannt und kann verschiedene Formen annehmen, einschließlich der Verletzung der Privatsphäre im Cyberspace, des Hackens des Computers des Opfers und des Diebstahls, des Austauschs und der Manipulation von Daten und Bildern, einschließlich intimer Details. Im Zusammenhang mit häuslicher Gewalt lässt sich die Cyber-Überwachung oft zum Partner der Person zurückverfolgen.
Der Gerichtshof ist daher der Auffassung, dass Handlungen wie die missbräuchliche Überwachung, der missbräuchliche Zugang und die missbräuchliche Speicherung der Korrespondenz des Ehegatten oder Partners von den örtlichen Behörden bei der Untersuchung von Fällen häuslicher Gewalt berücksichtigt werden können. Vorwürfe der Verletzung des Briefgeheimnisses verlangten von den Behörden eine Prüfung in der Sache, um ein umfassendes Verständnis der möglichen Formen häuslicher Gewalt zu erhalten.
Eine Prüfung in der Sache war im vorliegenden Fall nicht durchgeführt worden. Die örtlichen Behörden hatten es versäumt, die verfahrensrechtlichen Schritte zur Beweiserhebung zu unternehmen, um die Fakten zur rechtlichen Einordnung des Sachverhalts festzustellen. Sie seien zu formalistisch vorgegangen, indem sie jeden möglichen Zusammenhang mit der häuslichen Gewalt, auf die die Klägerin sie bereits aufmerksam gemacht hatte, zurückgewiesen hätten, und hätten somit die verschiedenen möglichen Formen häuslicher Gewalt außer Acht gelassen.
Der Staat habe daher in seinen konkreten Verpflichtungen nach Artikel 3 und 8 der Konvention versagt.
Schlussfolgerung: Verletzung (einstimmig).
Artikel 41: 10.000 EUR für immateriellen Schaden; Klage auf Ersatz des materiellen Schadens abgewiesen.
Übersetzung der englischen Fassung der
Information note: STREIT
Hinweis der Redaktion:
Auf der Homepage des EGMR gibt es Factsheets zu verschiedenen Fallgruppen, u.a. zu häuslicher Gewalt und Gewalt gegen Frauen: Factsheet domestic violence, Press Unit: www.echr.coe.int/Documents/FSViolenceWoman_ENG.pdf.
Siehe auch: Heike Rabe: Häusliche Gewalt im Schutzbereich der Art. 3, Art. 8 und Art. 14 EMRK – Entscheidung des EGMR, Eremia gegen Moldawien aus 2013, STREIT 4/2014, S. 181-184.