STREIT 3/2021

S. 139-141

Vertrauliche Spurensicherung als Kassenleistung

Forderungspapier zur Gewährleistung einer flächendeckenden niedrigschwelligen medizinischen und psychosozialen Versorgung sowie vertraulichen Spurensicherung nach sexualisierter und körperlicher Gewalt

Seit dem 01.03.2020 ist das Masernschutzgesetz in Kraft. Darin aufgenommen ist in §§ 27 und 132 k SGB V die Finanzierung der vertraulichen Spurensicherung nach sexualisierter und körperlicher Gewalt als Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung. Finanziert wird zukünftig eine vertrauliche Spurensicherung nach erlebter Gewalt einschließlich Dokumentation, Laboruntersuchungen und Aufbewahrung der Befunde. Das Gesetz wird auf Länderebene umgesetzt.
Der bff und seine angeschlossenen Fachberatungsstellen wollen bei der Umsetzung des Gesetzes auf Länderebene unterstützen. Der bff empfiehlt zugleich, dass die Perspektive von Betroffenen mit sehr unterschiedlichen Erfahrungen nach erlebter Gewalt bei der Umsetzung unbedingt einbezogen werden sollte.
Bei der Versorgung von Personen, die sexualisierte und körperliche Gewalt erlebt haben, müssen medizinische, rechtsmedizinische und psychosoziale Aspekte gleichberechtigt berücksichtigt werden und Hand in Hand gehen. Die medizinische Versorgung muss als gleichwertige Säule neben der rechtsmedizinischen Versorgung auch im Interesse einer (späteren) Strafverfolgung mitbedacht werden. Eine vertrauliche Spurensicherung kann nur dann gut funktionieren, wenn die medizinische Erstversorgung und Nachsorge sichergestellt sind. Das betont ein Bericht des Deutschen Instituts für Menschenrechte (DIMR)1 und fordert auch Artikel 25 der Istanbul-Konvention, die seit 2018 in Deutschland geltendes Recht ist.
Personen, die sexualisierte Gewalt erlebt haben, brauchen nach der erlebten Gewalt zuallererst eine medizinische Versorgung, um Verletzungen zu diagnostizieren und zu behandeln sowie Untersuchungen auf sexuell übertragbare Krankheiten oder eine potenzielle Schwangerschaft vorzunehmen. Eine solche umfassende medizinische Versorgung ist momentan vielerorts in Deutschland nicht gesichert. Vergewaltigte Frauen müssen häufig auch Notfallkontrazeptiva oder Medikamente zur HIV-Prävention selbst bezahlen. (…) Die Untersuchung und Behandlung von Betroffenen nach erlebter Gewalt muss traumasensibel erfolgen, um Retraumatisierungen zu verhindern. Vergewaltigung ist außerdem als medizinischer Notfall zu bewerten. Deswegen sollten lange Wartezeiten, z.B. in Rettungsstellen, vermieden werden.

1. Umsetzung der vertraulichen Spuren­sicherung im Masernschutzgesetz

Folgende Aspekte sind aus Sicht des bff zentral für die Umsetzung der Finanzierung der vertraulichen Spurensicherung nach erlebter Gewalt im SGB V:
a) Es muss dringend gesichert sein, dass das Abrechnungsverfahren mit den gesetzlichen Krankenkassen – im Sinne der Betroffenen – anonym, d.h. ohne Namensnennung gestaltet werden kann.
b) Es bedarf einer Klärung, dass auch Privatversicherte, aber auch Personen ohne Krankenversicherung und Jugendliche ohne Einwilligung der Sorgeberechtigten Leistungen zur vertraulichen Spurensicherung in Anspruch nehmen können und bezahlt bekommen.
c) Bei der gesetzlichen Regelung im Masernschutzgesetz wurden die Finanzierung der Spurensicherungs-Kits sowie Schulungen des ärztlichen Personals nicht berücksichtigt. Deren Finanzierung muss jedoch sichergestellt sein – und zwar nicht zu Lasten der anbietenden Stellen.
d) Es braucht einheitliche Qualitätsstandards bei der Versorgung Betroffener von sexualisierter und körperlicher Gewalt, darunter für die vertrauliche Spurensicherung.

  • Dazu zählen verpflichtende Schulungen des medizinischen Personals, damit diese Sicherheit im Umgang und der Versorgung von Betroffenen nach erlebter Gewalt erlangen. Dazu zählt u.a. ein traumasensibler, geschlechterreflektiver, zielgruppenspezifischer Ansatz. Auch das Pflege- und Servicepersonal muss geschult werden, da diese Personen in der Regel im Erstkontakt mit den Betroffenen stehen. Die Finanzierung der Schulungen muss geklärt sein. Bei den Schulungen ist die Expertise der Fachberatungsstellen mit einzubeziehen, um multidisziplinäre Perspektiven und psychosoziale Dimensionen der Situation von Betroffenen von Gewalt zu berücksichtigen.

  • Zu empfehlen ist zudem der Einsatz standardisierter Befundbögen zur Dokumentation der Verletzungen für ein bundeweites Monitoring.

  • Der bff empfiehlt zudem eine kontinuierliche, datenschutzrechtlich gesicherte Erfassung von Daten zur Häufigkeit der medizinischen Versorgung und vertraulichen Spurensicherung nach Gewalt, die bundesweit aussagekräftig ist.

  • Im Gesetz benannt sind qualifizierte Leistungsträger, die die Umsetzung der vertraulichen Spurensicherung übernehmen sollen. Ein zentrales Qualitätsmerkmal ist aus Sicht des bff die Kooperation zwischen Kliniken und/oder niedergelassenen Ärzt*innen mit rechtsmedizinischen Instituten und vor allem auch spezialisierten Fachberatungsstellen.

2. Umsetzung von Artikel 25 der Istanbul-­Konvention

Wie erläutert, reicht die Umsetzung der vertraulichen Spurensicherung nach SGB V nicht aus, um eine niedrigschwellige und umfassende Versorgung Betroffener nach sexualisierter und körperlicher Gewalt aufzubauen. Dafür sind aus Sicht des bff auch nach der Umsetzung des Gesetzes folgende Aspekte zentral.2 Der bff stützt sich dabei auf Artikel 25 der Istanbul-Konvention, die seit 2018 in Deutschland geltendes Recht ist.
a) Wichtig ist, eine niedrigschwellige und bedarfsdeckende Versorgung nach sexualisierter und körperlicher Gewalt sicherzustellen. Dafür sind folgende Voraussetzungen zu schaffen:

  • Bedarfsdeckende Finanzierung der Angebote.

  • In Krankenhäusern ist die ambulante Notfallbehandlung auf eine Erstversorgung beschränkt. Die gilt auch für gewaltbetroffene Personen, was bedeutet, dass Behandlungen darauf ausgerichtet sind, „Gefahren für Leib und Leben und unzumutbaren Schmerzen der Patientinnen zu begegnen und die Notwendigkeit einer stationären Behandlung abzuklären.“3 Krankenhäuser können daher für die Behandlung Betroffener von sexualisierter oder körperlicher Gewalt nur eine Notfallpauschale abrechnen, die die realen Kosten der Behandlung nicht abdeckt. Das führt dazu, dass Krankenhäuser in der Folge entweder Betroffene abweisen, zur Anzeige drängen oder an niedergelassene Ärztinnen weiterverweisen oder selbst anteilig Kosten tragen müssen. Eine umfassende medizinische Behandlung nach erlebter Gewalt muss in Krankenhäusern finanziert werden. Die Finanzierung der umfassenden medizinischen Versorgung muss auch in niedergelassenen Praxen sichergestellt sein.

b) Gewährleistung kurzer Wege und einer niedrigschwelligen Erreichbarkeit der Angebote. Betroffene müssen eine Klinik, niedergelassene Praxis, rechtsmedizinische Untersuchungsstelle und Fachberatungsstelle innerhalb von 20 bis 45 Minuten erreichen können.
c) Ausbau dezentraler Angebote für die vertrauliche Spurensicherung und medizinische Versorgung nach sexualisierter und körperlicher Gewalt. Nicht nur Kliniken, sondern auch niedergelassene Ärzt*innen sollten die vertrauliche Spurensicherung anbieten.

  • Aufbau landesweiter und regionaler Koordinierungsstellen.

  • (…) Bei Koordinierungsstellen bietet es sich an, dass diese in Hand des Unterstützungssystems sind. In verschiedenen Bundesländern gibt es bereits gut erprobte Koordinierungsstellen, allerdings oft ohne eine ausreichende Finanzierung.

  • Kostenfreie Notfallkontrazeptiva nach erlebter Gewalt.

  • Aktuell gibt es Finanzierungslücken für Betroffene. Dazu zählen einerseits kostenlose Notfallkontrazeptiva wie die Pille danach. Eine Schwangerschaft kann eine Folge erlebter sexualisierter Gewalt sein, allerdings müssen Betroffene die Pille danach nach dem 22. Lebensjahr selbst zahlen. Auch sind Laboruntersuchen auf sexuell übertragbare Krankheiten, wie beispielsweise Chlamydien oder eine HIV-Infektion, in Krankenhäusern nicht abrechenbar. Die Pille danach sollte ohne Altersbeschränkung für Betroffene von Gewalt kostenfrei bereitgestellt werden. Auch müssen – im Interesse der Betroffenen – die Kosten für Untersuchungen auf sexuell übertragbare Krankheiten auch in Krankenhäusern übernommen werden.

d) Rechtsmedizinische Expertise für Ärzt*innen.

  • Für eine flächendeckende Versorgung Betroffener nach Gewalt ist die Qualifizierung von Ärztinnen wichtig, damit diese rechtsmedizinische Expertise erlangen. Bei der Qualifizierung sind Rechtsmedizinerinnen wichtige Kooperationspartner*innen.

e) Wichtig ist der diskriminierungsfreie Zugang zu Versorgungsangeboten nach erlebter sexualisierter und körperlicher Gewalt.
f) Angebote der medizinischen, rechtsmedizinischen und psychosozialen Versorgung müssen barrierefrei zur Verfügung stehen, damit z.B. Betroffene mit Behinderungen umfassend versorgt werden können. Dazu zählen neben der Zugänglichkeit der Räume beispielsweise auch Informationen in Leichter Sprache oder Deutscher Gebärdensprache.
g) Auch müssen Dolmetschkosten zur Verfügung gestellt werden, damit Klinikpersonal, niedergelassene Ärzt*innen, aber auch Fachberatungsstellen Betroffene von Gewalt umfassend über die medizinische Behandlung und auch die Möglichkeit der vertraulichen Spurensicherung informieren können.
h) Der diskriminierungsfreie Zugang muss auch für Migrantinnen, Minderjährige und ältere Menschen sowie lesbische, schwule, bisexuelle, trans, intersexuelle, non-binäre und queere Menschen (LGBTIQ) bestehen. Dies ist beispielsweise in der Öffentlichkeitsarbeit und dem Bekanntmachen von Angeboten der Versorgung nach sexualisierter und körperlicher Gewalt zu berücksichtigen.
i) Weiterführung von Modellen guter Praxis.
j) Best-Practice-Projekte und gut etablierte Strukturen zur medizinischen Versorgung und/oder vertraulichen Spurensicherung nach sexualisierter oder körperlicher Gewalt müssen unbedingt weitergeführt werden und finanziell abgesichert sein.
k) Der bff fordert, dass in Fällen von geschlechtsspezifischer Gewalt keine Regressforderungen von Krankenkassen möglich sein dürfen.
Berlin, Mai 2021

Hinweis:
Änderung des SGB V, in Kraft seit dem 1.3.2020
§ 27 Abs. 1 Satz 6 SGB V Krankenbehandlung
„Zur Krankenbehandlung gehören auch Leistungen zur vertraulichen Spurensicherung am Körper, einschließlich der erforderlichen Dokumentation sowie Laboruntersuchungen und einer ordnungsgemäßen Aufbewahrung der sichergestellten Befunde, bei Hinweisen auf drittverursachte Gesundheitsschäden, die Folge einer Misshandlung, eines sexuellen Missbrauchs, eines sexuellen Übergriffs, einer sexuellen Nötigung oder einer Vergewaltigung sein können.“
§ 132 k Vertrauliche Spurensicherung
„Die Krankenkassen oder ihre Landesverbände schließen gemeinsam und einheitlich auf Antrag des jeweiligen Landes mit dem Land sowie mit einer hinreichenden Anzahl von geeigneten Einrichtungen oder Ärzten Verträge über die Erbringung von Leistungen nach § 27 Absatz 1 Satz 6. In den Verträgen sind insbesondere die Einzelheiten zu Art und Umfang der Leistungen, die Voraussetzungen für die Ausführung und Abrechnung sowie die Vergütung und Form und Inhalt des Abrechnungsverfahrens zu regeln. Die Leistungen werden unmittelbar mit den Krankenkassen abgerechnet, die Vergütung kann pauschaliert werden. Das Abrechnungsverfahren ist so zu gestalten, dass die Anonymität des Versicherten gewährleistet ist. Kommt ein Vertrag ganz oder teilweise nicht binnen sechs Monaten nach Antragstellung durch das Land zustande, gilt § 132 i Satz 3 bis 5 entsprechend mit den Maßgaben, dass Widerspruch und Klage gegen die Bestimmung der Schiedsperson keine aufschiebende Wirkung haben.“

  1. Fischer, Lisa (Hrsg. Deutsches Institut für Menschenrechte) (2020): Analyse - Akutversorgung nach sexualisierter Gewalt – Zur Umsetzung von Artikel 25 der Istanbul-Konvention in Deutschland: www.institut-fuer-menschenrechte.de/publikationen/detail/akutversorgung-nach-sexualisierter-gewalt S. 93.
  2. Auch hier schließt sich der bff den Empfehlungen des Deutschen Instituts für Menschenrecht an.
  3. Vgl. Bericht DIMR, S. 76.