STREIT 1/2020

S. 31-33

ArbG Eberswalde, Art 3 Abs. 1 GG, § 6 Abs. 5 ArbZG, § 4 MTV Rosen Eiskrem Süd GmbH

Voller Nachtschichtzuschlag für Eiskrem­herstellerinnen

Eine tarifliche Regelung, die für diejenigen, die in Schicht arbeiten, in der Nachtschicht geringere Nachtschicht-Zuschläge vorsieht, als für andere Beschäftigte, die in der Nacht arbeiten, verstößt gegen Art. 3 GG.
(Leitsatz der Redaktion)
Urteil des ArbG Eberswalde vom 12.09.2019 – 1 Ca 375/19, nrkr.

Zum Sachverhalt:
Die Parteien streiten um die Zahlung eines tariflichen Nachtzuschlages.
Die Klägerin ist bei der Beklagten seit 01.06.1993 als Anlagenfachkraft gegen eine monatliche Bruttovergütung von 2.506,32 Euro (15,19 Euro brutto pro Stunde) beschäftigt. Auf das Arbeitsverhältnis ist kraft beiderseitiger Tarifbindung anwendbar der Manteltarifvertrag (nachfolgend MTV) für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und Auszubildenden der Rosen Eiskrem Süd GmbH, Werk Prenzlau vom 12.02.2018. Soweit für den Rechtsstreit erheblich, haben die Tarifvertragsparteien folgendes geregelt:
„II. Vergütung
1. Für … Nachtarbeit (sind) folgende Zuschläge zu zahlen:
b) für Nachtarbeit,
– Schichtarbeit und Wechselschichtarbeit die in die Nachtzeit von 22 bis 6 Uhr fallen 15 v.H.
– die regelmäßig länger als 14 Tage überwiegend in die Nachtzeit … fallen 20 v.H.
– sonstige Nachtarbeit 60 v.H.
2. Beim Zusammentreffen mehrerer Zuschläge ist nur ein Zuschlag, und zwar der höchste zu zahlen.“
Die Klägerin hat im Dezember 2018 2,39 Stunden, im Januar 2019 56,36 Stunden, im Februar 2019 35,55 Stunden, im März 2019 51,84 Stunden, im April 2019 51,69 Stunden, im Mai 2019 41,62 Stunden und im Juni 2019 57,60 Stunden Nachtarbeit geleistet, die die Beklagte mit einem Zuschlag i.H.v. 15% zum Stundenlohn vergütet hat.
Die Klägerin verlangt mit ihrer Klage die Zahlung weiterer Nachtzuschläge für den Zeitraum Dezember 2018 bis Juni 2019. Die Klägerin vertritt die Auffassung, die Beklagte schulde einen Nachtzuschlag i.H.v. 60 % für „sonstige Nachtarbeit“ gem. § 4 II Nr. 1 b des MTV. Die Differenzierung zwischen Nachtarbeit in Schichtarbeit und Wechselschichtarbeit und sonstiger Nachtarbeit sei gleichheitswidrig. […]

Aus den Gründen:
Die zulässige Klage ist in vollem Umfang begründet. Die Klägerin hat Anspruch auf Vergütung eines Zuschlages für geleistete Nachtarbeit im Sinne von § 4 II Nr. 1 b MTV i.H.v. 60 %.
Die tarifvertragliche Differenzierung bei den Zuschlägen für Nachtarbeit bei Schichtarbeit und Wechselschichtarbeit einerseits und für sonstige Nachtarbeit andererseits verstößt gegen Artikel 3 Abs. 1 GG. Arbeitnehmer, die regelmäßige Nachtarbeit leisten, werden gegenüber Arbeitnehmern, die unregelmäßige Nachtarbeit leisten, gleichheitswidrig schlechter gestellt. Dem Gleichheitssatz kann daher nur dadurch Rechnung getragen werden, dass die Klägerin für die im Streitzeitraum geleistete regelmäßige Nachtarbeit ebenso behandelt wird wie ein Arbeitnehmer, der im gleichen Zeitraum unregelmäßige Nachtarbeit erbracht hat. Soweit die Beklagte bereits einen Nachtarbeitszuschlag von 15 % gezahlt hat, steht der Klägerin ein weiterer Anspruch i.H.v. 45 % zu ihrem jeweiligen Stundenlohn zu, so dass die Klägerin Anspruch auf weitere Zahlung für den Streitzeitraum i.H.v. 2025,59 Euro brutto hat.

1. Die in § 4 Abs. II Nr. 1 b geregelte Differenzierung der Zuschlagshöhe für Nachtarbeit ist durch das Gericht auf Vereinbarkeit mit Artikel 3 Abs. 1 GG zu prüfen.
1.1. Als selbständigen Grundrechtsträgern kommt den Tarifvertragsparteien aufgrund der durch Artikel 9 Abs. 3 GG geschützten Tarifautonomie ein weiter Gestaltungsspielraum zu. Mit der kollektiv ausgeübten privatautonomen Ausgestaltung der Arbeitsbedingungen durch Tarifverträge ist eine unmittelbare Grundrechtsbindung der Tarifvertragsparteien zwar nicht zu vereinbaren. Sie führte zu einer umfassenden Überprüfung tarifvertraglicher Regelungen am Maßstab der Verhältnismäßigkeit und damit zu einer „Tarifzensur“ durch die Arbeitsgerichte.
Da die Grundrechtsgewährung jedoch nicht auf die bloße Abwehr staatlicher Eingriffe beschränkt ist, sondern darüber hinaus den Staat dazu verpflichtet, die Rechtsordnung in einer Weise zu gestalten, dass die einzelnen grundrechtlichen Gewährleistungen wirksam werden können, trifft den Staat die Schutzpflicht, einer Grundrechtsverletzung durch andere Grundrechtsträger entgegenzuwirken. Dementsprechend verpflichtet die Schutzpflichtfunktion der Grundrechte die Rechtsprechung dazu, solchen Tarifregelungen die Durchsetzung zu verweigern, die zu gleichheitswidrigen Differenzierungen führen oder eine unangemessene Beschränkung eines grundrechtlichen Freiheitsrechts zur Folge haben (vgl. LAG Bremen, Urteil vom 10.04.2019 – 3 Sa 12/18 m.w.N.).

1.2. Prüfgegenstand ist vorliegend der Manteltarifvertrag für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und Auszubildenden der Rosen Eiskrem Süd GmbH, Werk Prenzlau vom 12.02.2018. Die Tarifvertragsparteien des MTV haben mit der für die Nachtarbeitszuschläge vorgenommenen Gruppenbildung den ihnen zustehenden Gestaltungsspielraum überschritten, indem sie für eine Gruppe von Normadressaten ohne sachlichen Grund eine erheblich weniger günstige Zuschlagsregelung geschaffen haben als für eine vergleichbare Gruppe. Zwischen Nachtarbeit in Schichtarbeit und Wechselschichtarbeit und sonstiger Nachtarbeit bestehen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht, die eine derart unterschiedliche Nachtarbeitsvergütung rechtfertigen. Die Zuschlagsregelung für Nachtarbeit in Schichtarbeit und Wechselschichtarbeit verringert sach- und gleichheitswidrig das Entgelt für die mit der Erschwernis Nachtarbeit verbundene Arbeitsleistung im Vergleich zu den Arbeitnehmern, die sonstige Nachtarbeit im Tarifsinne verrichten.

1.3. Die Gruppe der Arbeitnehmer, die Nachtarbeit in Schichtarbeit und Wechselschichtarbeit leistet, ist mit der Gruppe der Arbeitnehmer vergleichbar, die sonstige Nachtarbeit erbringt. Beide Arbeitnehmergruppen erbringen ihre Arbeitsleistung innerhalb eines Zeitraums der in § 4 Abs. I Ziffer 3 als Nachtarbeit gekennzeichnet ist und sich dadurch von Arbeit zu anderen Zeiten unterscheidet.
Dabei ist davon auszugehen, dass die Arbeitsleistung in der Nachtzeit als Erschwernis zu betrachten ist, die durch einen Lohnzuschlag zu kompensieren ist. Für die Nachtarbeit kann auf die Wertung in Erwägungsgrund 7 und 8 ff. der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 04.11.2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung (Arbeitszeit-RL) und in § 6 Abs. 5 ArbZG zurückgegriffen werden.
Nachtarbeit ist nach gesicherten arbeitswissenschaftlichen Erkenntnissen grundsätzlich für jeden Menschen schädlich und hat negative gesundheitliche Auswirkungen. Indem Nachtarbeit verteuert wird, wirkt sich der Nachtarbeitszuschlag unmittelbar auf die Gesundheit aus. Außerdem soll der Nachtarbeitszuschlag im Sinne des § 6 Abs. 5 ArbZG in einem gewissen Umfang den Arbeitnehmer für die erschwerte Teilhabe am sozialen Leben entschädigen. Der Gesetzgeber hat die Ausgleichspflicht für Nachtarbeit als so bedeutend angesehen, dass er den entsprechenden Zuschlag gesetzlich geregelt hat. Damit wird unterstrichen, dass dieser Zahlung auch im Interesse des Arbeitnehmers eine besondere Stellung eingeräumt wird (LAG Bremen a.a.O.).

1.4. Die in § 4 Abs. II Nr. 1 b geregelte Differenzierung der Zuschlaghöhe für die Nachtarbeit ist nach derzeitigen arbeitsmedizinischen Erkenntnissen objektiv sachlich nicht gerechtfertigt. Es kann nach bisherigem Kenntnisstand in der Arbeitsmedizin nicht davon ausgegangen werden, dass die Belastungen einer Nachtarbeit von 5 oder mehr aufeinanderfolgenden Tagen gesundheitlich geringer sind als die Belastungen von Nachtarbeit an weniger als 5 aufeinanderfolgenden Tagen. Die Belastung und Beanspruchung der Beschäftigten steigt nach bisherigem Kenntnisstand in der Arbeitsmedizin durch die Anzahl der Nächte pro Monat und die Anzahl der Nächte hintereinander, in denen Nachtarbeit geleistet wird. Die Anzahl der aufeinanderfolgenden Nachtschichten sollte daher möglichst gering sein, auch wenn viele Schichtarbeitnehmer, die in einem Rhythmus oder mehrere hintereinanderliegende Nachtschichten arbeiten, subjektiv den – objektiv unzutreffenden – Eindruck haben, dass sich ihr Körper der Nachtschicht besser anpasst. Insgesamt ist anerkannt, dass Nachtarbeit umso schädlicher ist, in je größerem Umfang sie geleistet wird (BAG, Urteil vom 21.03.2018 – 10 AZR 34/17).
Die Beklagte ist diesem durch das Bundesarbeitsgericht festgestellten aktuellen Stand arbeitsmedizinischer Erkenntnisse nicht in erheblicher Weise entgegengetreten. Die Beklagte selbst hat nicht konkret dargelegt, dass nach aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen davon auszugehen sei, dass Nachtarbeit im Wechsel mit anderen Arbeitszeiten belastender für die betroffenen Arbeitnehmer sei als dauerhafte Nachtarbeit. Das Gericht folgt deshalb den zitierten Feststellungen des BAG, wonach nach dem derzeitigen wissenschaftlichen Stand arbeitsmedizinischer Erkenntnisse nicht davon ausgegangen werden kann, dass Nachtarbeit im Wechsel mit anderen Arbeitszeiten belastender ist als dauerhafte Nachtarbeit.

1.5. Die weiteren zur Differenzierung der Zuschlagshöhe für Nachtarbeit von der Beklagten vorgebrachten Gründe greifen zur Überzeugung der Kammer nicht durch. Auf welcher empirischen Grundlage die Beklagte zu der Erkenntnis gelangt ist, ein Arbeitnehmer, der in Schichtarbeit arbeite, könne sich leichter auf die mit der Nachtarbeit verbundenen Erschwernisse – wie z.B. die Organisation von Betreuungsmöglichkeiten – einstellen, ist weder dargetan noch ersichtlich. Zur Überzeugung des Gerichts ist eher das Gegenteil der Fall.
Auch sind keinerlei Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass sonstige Nachtarbeit für die betroffenen Arbeitnehmer nur kurzfristig und unplanbar vorkommt.

2. Da somit für eine Differenzierung zwischen Nachtarbeit in Schichtarbeit und Wechselschichtarbeit und sonstiger Nachtarbeit sachliche Gründe im Hinblick auf die Belastung der betroffenen Arbeitnehmer und der daraus resultierenden erforderlichen Kompensation vorliegend nicht ersichtlich sind, erweist sich die Zuschlagshöhe für Nachtarbeit in Schichtarbeit, die weniger als 1/3 der Zuschlagshöhe für sonstige Nachtarbeit beträgt als gleichheitswidrige Differenzierung, die eine unangemessene Beschränkung eines grundrechtlichen Freiheitsrechts zur Folge hat (BAG a.a.O.). Dies gilt auch für die Beeinträchtigung der sozialen Teilhabe bei der Absolvierung von Nachtarbeit. Die „Verteuerung“ der Nachtarbeit durch Zuschlagsregelungen wirkt sich zwar nicht unmittelbar aber zumindest mittelbar auf die Gesundheit der Nachtarbeit leistenden Arbeitnehmer aus. Zugleich entschädigt der Zuschlag in gewissem Umfang für die erschwerte Teilnahme am sozialen Leben. […]

5. Schließlich haben die Tarifvertragsparteien mit der Vereinbarung eines Zuschlages i.H.v. nur 15 % für Nachtarbeit in Schichtarbeit und Wechselschichtarbeit ihren Gestaltungsspielraum überschritten. Nach der Rechtsprechung des BAG orientiert sich der Gestaltungsspielraum der Tarifvertragsparteien für mögliche Differenzierungen am Zweck der jeweiligen Leistung.
Artikel 12 der Richtlinie 2013/88/EG verpflichtet zu effektiven Maßnahmen des Gesundheitsschutzes, denen auch § 6 Abs. 5 ArbZG zugeordnet wird. Der Zuschlag in § 6 Abs. 5 ArbZG soll Nachtarbeit so nachhaltig verteuern, dass nur noch in unverzichtbaren Fällen Nachtarbeit verlangt wird. Eine solche Verteuerung ist in der Regel nur dann gegeben, wenn wenigstens ein Zuschlag von 25 % zu zahlen ist (BAG, Urteil vom 09.12.2015 – 10 AZR 423/14). Die tarifliche 15 %-Regelung für Nachtschichtarbeitnehmer bleibt hinter diesem Maßstab deutlich zurück. Gründe, vom Regelfall des 25 %-Zuschlages nach unten abzuweichen, liegen nicht vor. Die 15 %-Regelung ist daher keine der staatlichen Schutzpflicht gerecht werdende Ausgleichsregelung, sodass sie der gebotenen Rechtskontrolle nicht standhalten kann (Kothe, Juris PR – ARBR 19/2019 Anm. 5).

6. Die gleichheitswidrige Ungleichbehandlung der Klägerin, die regelmäßige Nachtarbeit geleistet hat, kann nur durch eine Anpassung „nach oben“ beseitigt werden (BAG, Urteil vom 21.03.2018 – 10 AZR 34/17). Die Tarifvertragsparteien haben andere Nachtarbeiten in ihrem Geltungsbereich, die eine vergleichbare Gefährdung aufweisen, mit 60 % bewertet. Dieser Satz ist für alle Nachtarbeitnehmer der Beklagten einheitlich zur Anwendung zu bringen, weil nur so dem unionsrechtlich vorgeschriebenen Zweck des Gesundheitsschutzes Rechnung getragen werden kann. […]