STREIT 3/2018
S. 104-109
Wechselmodell nur einvernehmlich – Handlungsbedarf beim Unterhalt
Das Wechselmodell: Debatte und Definition
Die Debatte um das Wechselmodell ist im Frühjahr 2018 im Bundestag angekommen. Anlass waren zwei zeitgleiche Anträge von FDP und DIE LINKE. Erstere verfolgen das Ziel, das Wechselmodell als Regelfall einzuführen, wenn getrennte Eltern sich nicht einvernehmlich auf ein Betreuungsmodell einigen können, letztere lehnen dies ab.
Die fachliche wie politische Debatte krankt an unscharfen Definitionen und einem Mangel an aussagekräftigen wissenschaftlichen Forschungsergebnissen. Wenn über die Folgen für das Kindeswohl diskutiert wird, sprechen die Beteiligten oft einheitlich vom „Wechselmodell“, gehen aber von verschiedenen Definitionen aus. Das ist verständlich, denn während die Rechtsprechung zwischen Wechselmodell und erweitertem Umgang genau unterscheidet, sind die Definitionen im allgemeinen Sprachgebrauch und in der psychologischen Forschung fließend. Eltern bezeichnen mitunter jede Form der Mitbetreuung,1
psychologische Forschung oft eine Mitbetreuung ab 30 Prozent als Wechselmodell. Eine genaue Definition ist aber wichtig, wenn darüber debattiert wird, was für das Kindeswohl zuträglich ist und welcher rechtlichen Regelung dies möglicherweise bedarf oder auch nicht.
Der VAMV bezeichnet als Wechselmodell ein Betreuungsmodell, bei dem das Kind abwechselnd bei beiden Eltern lebt, annähernd gleich viel Zeit bei beiden verbringt und die Erziehungsverantwortung gleich verteilt ist. Dies entspricht einer Betreuungsverteilung von in etwa 50:50 Prozent.2
In Abgrenzung zu einem „üblichen Umgang“, der bei bis zu einem Drittel Mitbetreuung liegen kann, wird eine Mitbetreuung zwischen ca. einem Drittel und annähernd einer Hälfte als „erweiterter Umgang“ bezeichnet.
Kindeswohl
Die Unschärfe der Debatte zieht sich durch viele Argumentationslinien. Mangels deutscher Studien zum Wechselmodell werden die Befunde internationaler Studien herangezogen, deren Aussagekraft eingeschränkt ist durch unterschiedliche Definitionen des Wechselmodells, unterschiedliche gesellschaftliche Rahmenbedingungen in anderen Ländern und grundsätzliche Problematiken der Rechtsvergleichung. Zudem haben die untersuchten Trennungsfamilien sich überwiegend gemeinsam und einvernehmlich für das Wechselmodell entschieden, während die Ergebnisse als Argumente dafür verwendet werden, Eltern, die sich nicht auf ein Umgangsmodell einigen können, ein Wechselmodell per Gesetz zu verordnen.
Auch werden Metastudien zur Meinungsbildung herangezogen, die ihre eigenen Problematiken in sich tragen, da sie die Ergebnisse vieler unterschiedlicher Studien mit unterschiedlicher Qualität und unterschiedlichen Ansätzen zusammentragen und zusammenfassen. Zwei in den Debatten verstärkt in Erscheinung getretene Metastudien sind zudem von Wissenschaftlerinnen erarbeitet worden, bei denen Zielkonflikte zwischen Wissenschaft und politischer Überzeugung nicht völlig auszuschließen sind.3
Wie Kinder tatsächlich auf ein Wechselmodell oder zeitlich ausgedehnte Umgangskontakte reagieren und welche Vorteile oder Belastungen sie erleben, darüber bestehen kaum aussagekräftige Forschungsergebnisse.4
Aus der bisherigen Forschung können keine generellen Vorteile des Wechselmodells gegenüber dem Residenzmodell (oder umgekehrt) hergeleitet werden.5
Für Kinder steht aus psychologischer Sicht das Bedürfnis nach Kontinuität und Stabilität weit vorn.6
Nicht die Quantität des Kontaktes, sondern die Qualität ist für das Wohl des Kindes entscheidend.7
Das Kind braucht genügend Zeit, um mit beiden Eltern positive Kontakte zu pflegen, ohne dass beziffert werden könnte, wie viel Zeit dafür mindestens notwendig ist. Eine zeitlich gleiche Aufteilung der Betreuungszeiten ist jedenfalls nicht erforderlich.8
Kinder im Mittelpunkt: Übergänge behutsam gestalten
Die Trennung der Familie ist in aller Regel für alle Beteiligten ein sehr belastendes Ereignis. Die Frage, wie das Leben der Kinder weitergeht, wo sie wohnen, wer sie erzieht und versorgt, ihre emotionalen Bedürfnisse und Bindungen und der Wille des Kindes sollten dabei im Mittelpunkt stehen, ohne jedoch die Entscheidungsverantwortung auf das Kind zu verlagern. Eltern sollten sich fragen, welches Betreuungsmodell ihrem Kind die größte Sicherheit vermittelt, seine Eltern und Bezugspersonen in möglichst gewohntem Umfang zu behalten, ohne es dabei zu überfordern. Einschneidende Veränderungen der bis dato praktizierten Betreuung können Verlusterfahrungen zur Folge haben, die dem Kind emotionale und soziale Ressourcen nehmen, die es gerade bei der Bewältigung dieses kritischen Lebensereignisses benötigt.9 In jedem Fall sollten Übergänge und Veränderungen äußerst behutsam gestaltet werden. Dabei spielt auch das Alter der Kinder eine große Rolle und sollte berücksichtigt werden.
Elternautonomie
Eltern können und sollen in der Regel am besten selbst darüber entscheiden, wie ihr weiterer Lebensentwurf und der ihrer Kinder aussehen soll: Sie können ihre Befindlichkeit und die ihrer Kinder einschätzen und kennen die individuellen Rahmenbedingungen, wie z.B. berufliche, finanzielle, wohnliche Gegebenheiten, Möglichkeiten der Kinderbetreuung usw. Hinzu kommt, dass Betreuungsmodelle in den seltensten Fällen statisch bleiben können, sondern aufgrund sich ständig ändernder Lebensumstände immer wieder angepasst werden müssen (z.B. infolge von Krankheit, Urlaub, Wohnort- oder Arbeitsplatzwechsel und neuen Beziehungs- und Familienkonstellationen). Einer der sich zuverlässig ändernden Faktoren ist das Alter des Kindes und damit seine Entwicklung im familiären Kontext; schon deshalb ist es gut, wenn Eltern in ihren Vereinbarungen flexibel bleiben.
Der VAMV ist deshalb der Ansicht, dass Eltern – unter altersgerechter Einbeziehung des Kindeswillens – bewusst ihr Familienleben autonom und individuell gestalten und sich für ein Betreuungsmodell entscheiden sollten, welches den Bedürfnissen aller Beteiligten, aber vorrangig dem Kindeswohl ihres individuellen Kindes, Rechnung trägt.
Wird in strittigen Fällen erforderlich, dass das Familiengericht eine Entscheidung anstelle der Eltern trifft, muss diese auf einer Einzelfallprüfung mit obligatorischer Anhörung der Kinder und Berücksichtigung aller Kriterien des Kindeswohls beruhen.
Voraussetzungsvoll für alle Beteiligten
Das Wechselmodell ist ein sehr anspruchsvolles Modell für Kinder und Eltern, weshalb es von allen Beteiligten motiviert mitgetragen werden muss.10
Es erfordert eine gute Kooperation und Kommunikation zwischen den Eltern, einen Grundkonsens in wesentlichen Erziehungsfragen, gleichwertige positive Beziehungen und Bindungen des Kindes zu beiden Eltern, räumliche Nähe der Elternwohnungen, Eltern, die beide die Kinderbetreuung mit ihrer Erwerbstätigkeit vereinbaren können und ein Kind, das gerne im Wechsel bei den Eltern leben möchte und dieses Leben gut verträgt. Da Alltagsdinge von beiden Eltern gestaltet werden, gibt es einen hohen Abstimmungsbedarf, zu dem die Eltern in der Lage sein müssen. Diese Voraussetzungen lassen sich nicht mit rechtlichen Mitteln herbeiführen.
Auch finanziell ist das Modell anspruchsvoll, weil das Kind in beiden Haushalten Alltag lebt und deshalb vom Wohnraum über Kleidung, Spielzeug, Möbel, Schulsachen und Freizeitmöglichkeiten vieles doppelt in den elterlichen Haushalten vorgehalten werden muss.
Als gesetzliches Leitmodell für alle Familien eignet es sich deshalb nicht, auch wenn es im Einzelfall eine gute Lösung darstellen kann. Immer vorausgesetzt, beide Eltern wollen es, sie können geeignete Rahmenbedingungen schaffen und das Kind kommt mit den Wechseln gut zurecht.
Zudem gibt es Fallkonstellationen, in denen das Wechselmodell aus Sicht des VAMV grundsätzlich ungeeignet ist: In Fällen mit häuslicher Gewalt,11
Fällen mit hohem Konfliktniveau zwischen den Eltern und bei sehr kleinen Kindern.12
Es ist insofern nicht überraschend, dass das Wechselmodell nur von wenigen Familien tatsächlich gelebt wird (zwischen 513
und 814
Prozent). Für über die Hälfte der Trennungseltern kommt es nicht in Frage.15
Familienalltag in Deutschland – modernes Denken, traditionelles Handeln
Wünsche und Wirklichkeiten klaffen in Familien weit auseinander. Viele Paare formulieren heute ein Beziehungsideal der egalitären Arbeitsteilung, fallen nach der Geburt des ersten Kindes jedoch in alte Rollenmuster. Die Aushandlungsprozesse innerhalb der Paarfamilie führen – bedingt durch persönliche und gesellschaftliche Werte- und Rollenvorstellungen, mangelnde Vereinbarkeit von Familie und Beruf, steuerliche Fehlanreize und unterschiedliche Einkommensverhältnisse von Männern und Frauen – zu folgendem Ergebnis: Überwiegend sind es die Mütter, die ihre berufliche Karriere unterbrechen, ihre Erwerbsarbeit einschränken und die Sorgearbeit im Haushalt übernehmen; die Väter konzentrieren sich auf die Erwerbsarbeit.16
In der Folge beträgt der Gender Care Gap in Paarfamilien 83 Prozent.17
Die „moderne“ Familie, die sich bereits vor der Trennung Haushalt, Kinder und Erwerbsarbeit gleichberechtigt teilt, kann man in Deutschland also mit der Lupe suchen. Empirische Erkenntnisse widerlegen die Annahme, dass erst mit der Trennung aufgrund des Kindschaftsrechts ein altes Rollenmodell in die getrennte Familie gebracht wird. Vielmehr führen Familien nach der Trennung vielfach weiter, was sie zuvor gelebt haben. Deshalb ist das Residenzmodell nach wie vor das am meisten gelebte Nachtrennungsmodell.
Diesem Umstand trägt der Gesetzgeber Rechnung, indem er festlegt, welchen Wert die Betreuungsleistung hat, wenn sie erfolgt: Sie ist in der Regel gleichwertig zur Unterhaltszahlung. Ein Leitbild etabliert der Gesetzgeber damit nicht.18
Er legt nur die ökonomischen Folgen für die in Familien am meisten verbreitete Form der Arbeitsteilung19
fest. Eltern sind sowohl vor als auch nach der Trennung rechtlich frei, jede andere Aufteilung von Erwerbs- und Sorgearbeit einvernehmlich vorzunehmen. Ihre Entscheidungen werden jedoch wie oben beschrieben maßgeblich durch die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen beeinflusst.20
Als Gleichstellungsinstrument nicht geeignet
Während Mütter überwiegend die finanziellen Risiken einer Trennung tragen, treibt Väter stärker die Angst um, die Beziehung zum Kind zu verlieren. Können mit einer Trennung die Karten völlig neu gemischt und kann nicht Gelebtes aufgeholt werden?
Für Eltern, die wegen Kinderbetreuung, Haushalt und Sorgearbeit beruflich zurückgesteckt haben (statistisch: die Mütter21
) heißt die Antwort klar: Nein. Die Nachteile eines auch nur vorübergehenden Ausstiegs aus der Erwerbsarbeit oder einer länger andauernden Teilzeitbeschäftigung lassen sich über den Lebensverlauf hinweg kaum kompensieren.22
Sie behalten deshalb den schwarzen Peter in der Hand.
In 82 Prozent der Familien mit Kindern unter 18 Jahren ist der Mann der Hauptverdiener.23
Die Mütter gehen daher – im Gegensatz zu den Vätern – selten mit einer existenzsichernden Berufstätigkeit in die Trennung. Ohne Job oder in der Teilzeitfalle gefangen fällt ihnen diese auch nicht in den Schoß, wenn der Vater künftig die Hälfte der Kinderbetreuung übernimmt. Müttern in dieser Situation ein Wechselmodell als Regelfall und obendrein wie der FDP-Antrag lautete, eine Barunterhaltsverpflichtung für das Kind aufzuerlegen, sobald ihr Betreuungsanteil 70 Prozent unterschreitet, wäre gleichstellungspolitisch verfehlt.
Es ist verständlich, wenn Eltern, die wegen ihrer Erwerbsarbeit weniger Kinderbetreuung übernommen haben (statistisch: die Väter24
) nach einer Trennung den täglichen Kontakt mit ihren Kindern vermissen. Dieser ergibt sich in einer zusammenlebenden Familie in der Regel von selbst und durch gemeinsame Alltagsrituale, an denen auch der vollerwerbstätige Elternteil teilnimmt, wie zum Beispiel gemeinsame Abendessen, Zubettbringen, gemeinsame Wchendendgestaltung. Wenn das Leben unter einem Dach aufhört, lässt sich der abendliche Moment mit dem Kind nicht mehr teilen und die gemeinsamen Alltagsrituale entfallen.
Der Wunsch von Vätern, ihre Kinder nach der Trennung häufiger zu sehen, ist insofern nachvollziehbar. Der politische Ruf nach Gleichstellung bei der Kinderbetreuung für getrennte Väter wird jedoch der komplexen Gesamtsituation nicht gerecht. Denn er steht in einem Spannungsverhältnis mit der nur individuell zu beantwortenden Frage, welches Arrangement dem Kindeswohl am besten entspricht. Eine gute Betreuungsregelung weist aufgrund des Kindeswohlkriteriums „Kontinuität“ in aller Regel Bezüge zu den Verhältnissen auf, in denen die Familie vorher zusammengelebt hat.
Wie oben beim Kindeswohl bereits dargestellt, ist die „hälftige Aufteilung“ des Kindes nicht per se erstrebenswert. Insoweit ist dies ein zwischenmenschlicher Bereich, der sich in gewisser Weise einer allgemeingültigen Regelung entzieht und weiterhin im Einzelfall und möglichst im Einvernehmen der Eltern gelöst werden sollte.
Das Umgangsrecht ist also aus guten Gründen neutral gehalten und verzichtet darauf, Betreuungsanteile festzulegen. Im Sinne einer Politik für Kinder sollte das auch so bleiben. Ein Betreuungsmodell muss in erster Linie den Bedürfnissen des Kindes und nicht der Gleichstellung der Eltern dienen, weshalb das Umgangsrecht nicht der geeignete Ort ist, um Gleichstellungspolitik zu betreiben.
Zwar ist es die Aufgabe der Politik, Wünsche nach gleichberechtigter Elternschaft aufzugreifen und Rahmenbedingungen hierfür zu schaffen. Sie kann damit jedoch nicht erst zum Zeitpunkt der Trennung ansetzen, da ist es zu spät. Die Karten neu zu mischen ist nur bedingt möglich, gelebtes Leben kann weder zurückgedreht noch darf es ignoriert werden. Der VAMV setzt sich deshalb für eine Gleichstellungspolitik ein, die zu Beginn des Familienlebens einsetzt, wenn die Ausgangspositionen der Beteiligten festgelegt werden.
Handlungsbedarf im Unterhaltsrecht: Faire Unterhaltslösungen
Die Betreuung von Kindern in zwei Haushalten ist teurer als in einem. Die Mehrkosten im Wechselmodell oder bei erweitertem Umgang müssen unter Berücksichtigung des unterschiedlichen Startkapitals von Müttern und Vätern nach der Trennung verteilt werden. Deshalb ist es für die Regelung der finanziellen Aspekte einer Trennung aus Sicht des VAMV wichtig, dass in der Lebensverlaufsperspektive die Gestaltung des Familienlebens vor der Trennung Beachtung findet und die Lasten der Neuorganisation der getrennten Familie nicht einseitig verteilt werden.
Generell fehlen noch faire Rechenmodelle für die Verteilung der Unterhaltslasten und Erwerbspflichten bei Wechselmodell und erweitertem Umgang, die nicht zu Lasten des ökonomisch schwächeren Elternteils und des Kindes gehen und an denen sich Eltern und Gerichte orientieren können. Solche Unterhaltsmodelle müssen die Mehrkosten eines Wechselmodells bzw. erweiterten Umgangs, für deren Bezifferung bislang empirische Daten fehlen, sowie alle Beiträge der Eltern zum Unterhalt des Kindes ebenso angemessen berücksichtigen wie eine asymmetrische Arbeitsverteilung der Eltern vor der Trennung.
Opportunitätskosten der während des Zusammenlebens der Familie geleisteten Kinderbetreuung und Haushaltsführung, die sich im Fehlen von Qualifikation, Berufserfahrung, Rentenansprüchen, Ersparnissen und existenzsichernden Arbeitsverhältnissen oder in Teilzeit-Arbeitsverhältnissen mit geringen Vergütungen und ohne Aufstiegs- und Karrierechancen niederschlagen können, müssen hier mitgedacht werden.
Folgende Punkte sollte der Gesetzgeber klarstellend aufgreifen:
Im Wechselmodell muss er sicherstellen, dass anteilige Unterhaltspflichten nicht dazu führen, dass bei ungleichen Einkommensverhältnissen der Eltern der Einkommensschwächere luxuriöse Bedarfsdeckungen im einkommensstärkeren Haushalt mitfinanziert.25
Eltern, die aufgrund von Kinderpausen und Sorgearbeit Nachholbedarf bei Ausbildung, Qualifikation und Karriereschritten haben, muss der Gesetzgeber hierfür die erforderlichen und angemessenen Zeitspannen zur Verfügung stellen. Bei einer Trennung dürfen sie nicht durch gesteigerte Erwerbsobliegenheiten im Wechselmodell an einem angemessenen beruflichen Fortkommen gehindert werden. Auch ist in jedem Fall zu vermeiden, dass Kinder von ökonomisch schwachen Eltern im Wechselmodell aufgrund der Anrechnung fiktiver Einkommen in finanziell unterdeckten Haushalten leben müssen.26
Für den Elternteil mit familienbedingten Nachteilen in der Erwerbsbiografie sind Übergangs- und Weiterbildungsfristen zwischen 5 und 10 Jahren festzulegen und die Erwerbsobliegenheiten für einen Barunterhalt für das Kind im Wechselmodell entsprechend anzupassen.
Auch bei erweitertem Umgang braucht das Kind in beiden Haushalten eine ausreichende finanzielle Grundlage: Der Gesetzgeber muss dafür sorgen, dass Minderungen des Kindesunterhalts aufgrund bedarfsdeckender Naturalleistungen nur bei Übernahme normal anfallenden Bedarfs, wie z.B. Kleidung, die im Einvernehmen mit dem anderen Elternteil erfolgt, möglich sein dürfen.27
Im Sozialrecht setzt sich der VAMV für einen Umgangskindermehrbedarf ein, der die Mehrkosten anerkennt und gewährleistet, dass die Existenz des Kindes bei beiden Eltern gesichert ist.28
Kein Handlungsbedarf in weiteren Rechtsgebieten
Alltagstauglich sind Betreuungsverhältnisse nur, wenn Rechte und Pflichten nicht zu weit auseinanderfallen. Es hat gute Gründe, weshalb das Entscheidungsrecht in Angelegenheiten des täglichen Lebens bei dem Elternteil liegt, der diese auch überwiegend im Alltag umsetzen muss. Bereits bei Angelegenheiten von besonderer Bedeutung, die von gemeinsam sorgeberechtigten Eltern einvernehmlich zu treffen sind, kann es eine Crux sein, wenn sich der Umgangselternteil in der Schulentscheidung für die bilinguale Schule mit dem weiteren Schulweg durchsetzt, und der betreuende Elternteil dann den weiten Schulweg organisieren und die zweisprachigen Hausaufgaben überwachen muss. Werden ab einem Betreuungsanteil von 30 Prozent auch noch die Angelegenheiten des täglichen Lebens zu einvernehmlichen Entscheidungen der Eltern und damit zu potentiellen Zankäpfeln gemacht, wie es der Antrag der FDP nahelegt,29
ist dem Kindeswohl nicht gedient. Am Ende müssen sich in noch mehr Fällen Gerichte damit befassen, ob ein Junge lange Haare tragen oder welches Instrument ein Kind lernen darf.
Eine gesetzliche Regelung des Wechselmodells, auch eine „nur klarstellende“, ist aus Sicht des VAMV nicht empfehlenswert. Es würde dieses Betreuungsmodell gegenüber anderen wie Residenzmodell oder Nestmodell herausheben und käme damit der Etablierung eines Leitbildes aus Sicht des VAMV zu nahe. Für eine Förderung oder Bevorzugung des Wechselmodells sprechen jedoch, wie oben dargelegt, weder Gründe des Kindeswohls noch gleichstellungspolitische Gründe. Für ökonomisch schwache Eltern birgt das Modell Risiken.
Solange ein Elternteil die Hauptlast der Erziehungsverantwortung und Betreuung stemmt, ist es wichtig, dass den Lasten des Alleinerziehens die entsprechenden Leistungen und Entlastungen ebenso zugeordnet bleiben wie die entsprechenden Rechte. Die Betreuungsleistungen und die Übernahme von mehr Erziehungsverantwortung des Elternteils, der das Kind überwiegend betreut, müssen auch bei erweitertem Umgang im Recht sichtbar bleiben. Sie dürfen nicht hinter Begriffen wie „getrennt erziehen“ verschwinden, die eine annähernd gleiche Erziehungs- und Betreuungsleistung suggerieren, ohne dass dies regelmäßig der Fall ist.
Erst wenn Eltern sich Betreuung und Erziehungsverantwortung annähernd hälftig teilen, tragen beide in ihrer jeweiligen Betreuungszeit die vollen Lasten des Alleinerziehens. Hier finden wir Eltern, die sich zum Wohl des Kindes gut verständigen können und selbstbestimmt gute Lösungen finden, die der Gesamtsituation aller Beteiligten Rechnung tragen. Das gilt auch für Entscheidungen darüber, wo der Hauptwohnsitz des Kindes angemeldet wird oder wer das Kindergeld bezieht.
Deshalb sieht der VAMV in Bezug auf das Wechselmodell keinen gesetzgeberischen Handlungsbedarf in weiteren Rechtsgebieten, weder im Sorgerecht noch im Melderecht. Selbst in Schweden, welches eine vergleichsweise hohe Zahl an gelebten Wechselmodellen aufweist und das gerne als Beispiel für modernes Familienrecht angeführt wird, ist weder das Wechselmodell gesetzlich definiert (die Rechtsprechung ordnet es zwischen 40 und 60 Prozent Betreuungsanteil ein) noch gibt es die Möglichkeit, für ein Kind zwei Hauptwohnsitze anzumelden.
Fazit
Wenn der Gesetzgeber das Wechselmodell als Regelfall vorgibt, verhindert er damit die jeweils beste Lösung für das Kindeswohl im individuellen Einzelfall. Deshalb sollten Eltern ihr Familienleben weiterhin autonom und individuell gestalten und sich für ein Betreuungsmodell entscheiden, welches den Bedürfnissen aller Beteiligten, aber vorrangig dem Wohl ihres individuellen Kindes Rechnung trägt. Dazu muss ergebnisoffene Beratung – ohne ideologischen Wettstreit verschiedener Umgangsmodelle – in ausreichendem Maße zur Verfügung stehen, um getrennt lebende Eltern in ihrer individuellen Entscheidung für ein passendes Umgangs- oder Betreuungsmodell für ihre Kinder zu unterstützen.
Vorteile eines Wechselmodells für Kinder sind wissenschaftlich nicht belegt. Die langfristigen Wirkungen auf Kinder sind noch nicht ausreichend erforscht.
Das Wechselmodell ist sehr voraussetzungsvoll und stellt hohe Anforderungen an alle Beteiligten – von daher ist es als Standardmodell für Nachtrennungsfamilien, insbesondere zerstrittene, nicht geeignet.
Das Wechselmodell eignet sich nicht als gleichstellungspolitisches Instrument. Es kann gelebtes Leben nicht zurückdrehen.
Der Gesetzgeber sollte sich darauf konzentrieren, Partnerschaftlichkeit in zusammenlebenden Familien zu stärken und durch tatsächlich bedarfsgerechte Kinderbetreuungsangebote und Arbeitsmarktreformen positive Rahmenbedingungen für alle Familienformen zu schaffen.
Für Eltern, die ein Wechselmodell oder erweiterten Umgang leben möchten, müssen faire Unterhaltslösungen entwickelt werden, die weder den ökonomisch schwächeren Elternteil noch das Kind benachteiligen und gewährleisten, das die Existenz des Kindes in beiden Haushalten gesichert ist.
Berlin, 23.05.2018
Sigrid Andersen
Hinweis der Redaktion:
Zum Forschungsstand siehe den nachfolgend abgedruckten Beschluss des KG Berlin vom 22.05.2015 sowie den Beitrag „Aus dem Archiv“ von Kerima Kostka: Das Wechselmodell als Leitmodell? Umgang und Kindeswohl im Spiegel aktueller internationaler Forschung. Sie referiert englische und australische Forschungen zu den Auswirkungen des Wechselmodells auf die Kinder.
Vergleiche auch die Gemeinsame Erklärung des Deutschen Kinderschutzbundes, der Deutschen Liga für das Kind und des VAMV e.V. vom 20.10.2017: Wechselmodell als gesetzlich zu verankerndes Leitmodell ungeeignet, in STREIT 4/2017, S. 169, sowie die Pressemitteilung des Deutschen Juristinnenbundes vom 15.06.2018, www.djb.de.
- Institut für Demoskopie Allensbach: Getrennt gemeinsam erziehen – Befragung von Trennungseltern im Auftrag des BMFSFJ, S. 26. ↩
- So definiert auch der Bundesgerichtshof, vgl. z.B. BGH XII ZB 234/13 Beschluss vom 12.03.2014 und BGH XII ZB 601/15 Beschluss vom 01.02.2017. ↩
- Die Verfasserin von „Wechselmodell: Psychologie – Recht – Praxis“, Prof. Dr. Hildegund Sünderhauf sieht sich selbst in ihrem Vorwort als Teil einer großen internationalen Bewegung, die von ihr als wissenschaftliche und gesellschaftspolitische „Wechselmodell-Szene“ bezeichnet wird. Im Schlusswort stellt sie Aktionsfelder zur Verbreitung des Wechselmodells vor, die zur Überwindung der Widerstände beitragen sollen und hofft auf ein Umdenken der „Wechselmodellgegner“. Dr. Linda Nielsen, die Verfasserin von „10 Surprising Facts on Shared Parenting After Divorce or Separation“ war Präsidentin des ACFC (American Coalition of Fathers and Children), einer amerikanischen Väterrechtsorganisation. ↩
- Salzgeber: Das Wechselmodell in NZFam 20/2014 S. 921, 924. ↩
- Salzgeber: Das Wechselmodell nach Trennung und Scheidung in: Frühe Kindheit 2/16, S.39 ff; Kindler/Walper: Das Wechselmodell im Kontext elterlicher Konflikte in: NZFam 2016, S.820 ff; Walper: Arrangements elterlicher Fürsorge nach Trennung und Scheidung: Das Wechselmodell im Licht neuer Daten aus Deutschland. Dt. Familiengerichtstag e.V. (Hrsg.): Brühler Schriften zum Familienrecht. 21. Deutscher Familiengerichtstag S. 99, 115-118 m. w. N. ↩
- Salzgeber: Das Wechselmodell in NZFam 20/2014 S. 921, 925. ↩
- Walper, , a.a.O (FN 7) S. 99, 106 m. w. N. ↩
- Vgl. Salzgeber: Das Wechselmodell in NZFam 20/2014 S. 921, 926. ↩
- Deutsche Liga für das Kind, Deutscher Kinderschutzbund, VAMV (Hrsg.): Wegweiser für den Umgang nach Trennung und Scheidung, 15. Auflage März 2017, S. 38/39. ↩
- Salzgeber: Das Wechselmodell in NZFam 20/2014 S. 921, 924. ↩
- Frauenhauskoordinierung e.V.: Stellungnahme von Frauenhauskoordinierung zum Wechselmodell als angeordneter Umgangsregelung in der Diskussion vom 13.06.2017. ↩
- Kindler/Walper: Das Wechselmodell im Kontext elterlicher Konflikte in: NZFam 2016, S. 820 ff; Salzgeber: Das Wechselmodell in NZFam 20/2014 S. 921 ff. ↩
- Walper/Lux: Das Wechselmodell nach Trennung und Scheidung in der Diskussion in: Frühe Kindheit 02/16 S. 6 ff. ↩
- Institut für Demoskopie Allensbach: Getrennt gemeinsam erziehen – Befragung von Trennungseltern im Auftrag des BMFSFJ, S. 25 bis 27, und daraus folgende eigene Berechnungen: Wenn von den 15 Prozent selbsterklärten Nutzern des Wechselmodells nur 52 Prozent angeben, dass die Kinder etwa die Hälfte der Zeit bei beiden wohnen, praktizieren maximal diese ein paritätisches Wechselmodell, das entspricht 7,8 Prozent, ohne dass damit geklärt ist, ob die Hauptverantwortung nicht trotzdem bei einem Elternteil liegt, was neben der rein zeitlichen Aufteilung laut BGH ein weiteres Kriterium für das Wechselmodell darstellt. ↩
- Ebd. S. 25. ↩
- Sachverständigenkommission zum Zweiten Gleichstellungsbericht der Bundesregierung (2017): Erwerbs- und Sorgearbeit gemeinsam neu gestalten. Gutachten für den Zweiten Gleichstellungsbericht der Bundesregierung, S. 177. ↩
- Ebd. S. 39. ↩
- BGH Beschluss vom 01.02.2017 – XII ZB 601/15 – Rn.18 ↩
- Die Daten der 7. Welle des Beziehungs- und Familienpanels (pairfam), aus den Jahren 2014/2015 zeigen, dass 91 % der Kinder im Residenzmodell betreut werden, vgl. die Darstellung bei Geisler/Köppen/Kreyenfeld u.a. (Hrsg.): Familien nach Trennung und Scheidung in Deutschland, 2018, S. 17. ↩
- Vgl. Stellungnahme des Verbandes alleinerziehender Mütter und Väter, Bundesverband e. V. (VAMV) zur Gesamtevaluation ehe- und familienbezogener Leistungen in Deutschland, 2014. ↩
- Vgl. Kindler/Walper und Salzgeber, a.a.O. (FN 12). ↩
- Sachverständigenkommission, a.a.O. (FN 16), S. 97. ↩
- Institut für Demoskopie Allensbach: „Weichenstellungen für die Aufgabenteilung in Familie und Beruf“ – Eine repräsentative Befragung von Müttern und Vätern 2014, S. 4. ↩
- Väterreport 2016, S. 29: Die realen Wochenarbeitszeiten von Vätern mit Kindern unter 18 Jahren betragen bei 84 % mindestens 40 Stunden: Bei 50 % 40 bis 50 Stunden und bei 34 % über 50 Stunden; die Arbeitswege kommen dazu. ↩
- Lies-Benachib: Wechselmodell und Unterhalt. Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie Ihren… in: Familienpolitische Informationen der eaf 4/2017 S. 1 ff. ↩
- Ebd. mit Kritik an BGH XII ZB 565/15 Beschluss vom 11.01.2017. ↩
- Vgl. Ehinger, Uta/Griesche, Gerhard/Rasch, Ingeborg (2014): Handbuch Unterhaltsrecht 7. Auflage, Köln S. 98 A. Rz.272. ↩
- Vgl. Stellungnahme des Verbandes alleinerziehender Mütter und Väter, Bundesverband e. V. (VAMV) zum Entwurf eines Neunten Gesetzes zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch – Rechtsvereinfachung vom 11.11.2015. ↩
- Die FDP sieht Reformbedarf bei der alleinigen Entscheidungsbefugnis eines Elternteils in Angelegenheiten des täglichen Lebens vgl. Drucksache 19/1175 S. 3. ↩